Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

d. i. Großjapan. Ganz Japan ist wie eine einzige
Familie, und manchmal wollte es mich bedünken, als
seien sie alle miteinander verwandt. Auf den einzelnen
kommt es dabei nicht an, wenn nur das Ganze besteht
und groß und mächtig ist. Nicht nur der Partikularis-
mus, sondern auch der Individualismus hat in Japan
keine Stätte.

Das Japanertum, welches in der Person des Kaisers
sichtbare Gestalt gewinnt, steht in dem Mittelpunkte
des Lebens. Der Patriotismus ist Krone und Grund
aller öffentlichen Tugenden. Was Wunder, wenn in
einer Zeit, wo die alten Stützen der Moral in das
Wanken geraten sind, allen Ernstes der Vorschlag ge-
macht wird, die ganze Moral auf die Idee des Japaner-
tums aufzubauen. Der einzige Zweck der National-
religion Shintoismus ist die Pflege des vaterländischen
Sinnes. Um des Vaterlandes willen muß Gut und Blut
freudig geopfert werden. Japan ist kein reiches Land,
aber die Mittel zum chinesischen Krieg wurden ein-
stimmig bewilligt; und wenn es dem Parlamente je ein-
fallen sollte, Gelder zur Verstärkung des Heeres oder
der Flotte zu verweigern, so würde das Volk einmütig
dagegen aufstehen. Um des Vaterlandes willen ist jedes
Mittel erlaubt. Was das Vaterland groß macht, ist recht.
Wäre der chinesische Krieg ganz und gar an den Haaren
herbeigezogen gewesen, das Volk, von den Buddhisten
bis zu den Christen, hätte ihn doch für einen gerechten
erklärt. Wo das Vaterland in das Spiel kommt, hört
jedes Gerechtigkeitsgefühl und jede Selbsterkenntnis auf.
Spionage und Verrat, Gift und Dolch, Raub und
Mord werden in seinem Dienst geheiligt. Macchiavellis
Grundsätze, wie er sie in seinem jesuitenwürdigen Buche
"El Principe" entwickelt hat, sind hier zur That ge-

d. i. Großjapan. Ganz Japan iſt wie eine einzige
Familie, und manchmal wollte es mich bedünken, als
ſeien ſie alle miteinander verwandt. Auf den einzelnen
kommt es dabei nicht an, wenn nur das Ganze beſteht
und groß und mächtig iſt. Nicht nur der Partikularis-
mus, ſondern auch der Individualismus hat in Japan
keine Stätte.

Das Japanertum, welches in der Perſon des Kaiſers
ſichtbare Geſtalt gewinnt, ſteht in dem Mittelpunkte
des Lebens. Der Patriotismus iſt Krone und Grund
aller öffentlichen Tugenden. Was Wunder, wenn in
einer Zeit, wo die alten Stützen der Moral in das
Wanken geraten ſind, allen Ernſtes der Vorſchlag ge-
macht wird, die ganze Moral auf die Idee des Japaner-
tums aufzubauen. Der einzige Zweck der National-
religion Shintoismus iſt die Pflege des vaterländiſchen
Sinnes. Um des Vaterlandes willen muß Gut und Blut
freudig geopfert werden. Japan iſt kein reiches Land,
aber die Mittel zum chineſiſchen Krieg wurden ein-
ſtimmig bewilligt; und wenn es dem Parlamente je ein-
fallen ſollte, Gelder zur Verſtärkung des Heeres oder
der Flotte zu verweigern, ſo würde das Volk einmütig
dagegen aufſtehen. Um des Vaterlandes willen iſt jedes
Mittel erlaubt. Was das Vaterland groß macht, iſt recht.
Wäre der chineſiſche Krieg ganz und gar an den Haaren
herbeigezogen geweſen, das Volk, von den Buddhiſten
bis zu den Chriſten, hätte ihn doch für einen gerechten
erklärt. Wo das Vaterland in das Spiel kommt, hört
jedes Gerechtigkeitsgefühl und jede Selbſterkenntnis auf.
Spionage und Verrat, Gift und Dolch, Raub und
Mord werden in ſeinem Dienſt geheiligt. Macchiavellis
Grundſätze, wie er ſie in ſeinem jeſuitenwürdigen Buche
„El Principe“ entwickelt hat, ſind hier zur That ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0173" n="159"/>
d. i. Großjapan. Ganz Japan i&#x017F;t wie eine einzige<lb/>
Familie, und manchmal wollte es mich bedünken, als<lb/>
&#x017F;eien &#x017F;ie alle miteinander verwandt. Auf den einzelnen<lb/>
kommt es dabei nicht an, wenn nur das Ganze be&#x017F;teht<lb/>
und groß und mächtig i&#x017F;t. Nicht nur der Partikularis-<lb/>
mus, &#x017F;ondern auch der Individualismus hat in Japan<lb/>
keine Stätte.</p><lb/>
        <p>Das Japanertum, welches in der Per&#x017F;on des Kai&#x017F;ers<lb/>
&#x017F;ichtbare Ge&#x017F;talt gewinnt, &#x017F;teht in dem Mittelpunkte<lb/>
des Lebens. Der Patriotismus i&#x017F;t Krone und Grund<lb/>
aller öffentlichen Tugenden. Was Wunder, wenn in<lb/>
einer Zeit, wo die alten Stützen der Moral in das<lb/>
Wanken geraten &#x017F;ind, allen Ern&#x017F;tes der Vor&#x017F;chlag ge-<lb/>
macht wird, die ganze Moral auf die Idee des Japaner-<lb/>
tums aufzubauen. Der einzige Zweck der National-<lb/>
religion Shintoismus i&#x017F;t die Pflege des vaterländi&#x017F;chen<lb/>
Sinnes. Um des Vaterlandes willen muß Gut und Blut<lb/>
freudig geopfert werden. Japan i&#x017F;t kein reiches Land,<lb/>
aber die Mittel zum chine&#x017F;i&#x017F;chen Krieg wurden ein-<lb/>
&#x017F;timmig bewilligt; und wenn es dem Parlamente je ein-<lb/>
fallen &#x017F;ollte, Gelder zur Ver&#x017F;tärkung des Heeres oder<lb/>
der Flotte zu verweigern, &#x017F;o würde das Volk einmütig<lb/>
dagegen auf&#x017F;tehen. Um des Vaterlandes willen i&#x017F;t jedes<lb/>
Mittel erlaubt. Was das Vaterland groß macht, i&#x017F;t recht.<lb/>
Wäre der chine&#x017F;i&#x017F;che Krieg ganz und gar an den Haaren<lb/>
herbeigezogen gewe&#x017F;en, das Volk, von den Buddhi&#x017F;ten<lb/>
bis zu den Chri&#x017F;ten, hätte ihn doch für einen gerechten<lb/>
erklärt. Wo das Vaterland in das Spiel kommt, hört<lb/>
jedes Gerechtigkeitsgefühl und jede Selb&#x017F;terkenntnis auf.<lb/>
Spionage und Verrat, Gift und Dolch, Raub und<lb/>
Mord werden in &#x017F;einem Dien&#x017F;t geheiligt. Macchiavellis<lb/>
Grund&#x017F;ätze, wie er &#x017F;ie in &#x017F;einem je&#x017F;uitenwürdigen Buche<lb/><hi rendition="#aq">&#x201E;El Principe&#x201C;</hi> entwickelt hat, &#x017F;ind hier zur That ge-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0173] d. i. Großjapan. Ganz Japan iſt wie eine einzige Familie, und manchmal wollte es mich bedünken, als ſeien ſie alle miteinander verwandt. Auf den einzelnen kommt es dabei nicht an, wenn nur das Ganze beſteht und groß und mächtig iſt. Nicht nur der Partikularis- mus, ſondern auch der Individualismus hat in Japan keine Stätte. Das Japanertum, welches in der Perſon des Kaiſers ſichtbare Geſtalt gewinnt, ſteht in dem Mittelpunkte des Lebens. Der Patriotismus iſt Krone und Grund aller öffentlichen Tugenden. Was Wunder, wenn in einer Zeit, wo die alten Stützen der Moral in das Wanken geraten ſind, allen Ernſtes der Vorſchlag ge- macht wird, die ganze Moral auf die Idee des Japaner- tums aufzubauen. Der einzige Zweck der National- religion Shintoismus iſt die Pflege des vaterländiſchen Sinnes. Um des Vaterlandes willen muß Gut und Blut freudig geopfert werden. Japan iſt kein reiches Land, aber die Mittel zum chineſiſchen Krieg wurden ein- ſtimmig bewilligt; und wenn es dem Parlamente je ein- fallen ſollte, Gelder zur Verſtärkung des Heeres oder der Flotte zu verweigern, ſo würde das Volk einmütig dagegen aufſtehen. Um des Vaterlandes willen iſt jedes Mittel erlaubt. Was das Vaterland groß macht, iſt recht. Wäre der chineſiſche Krieg ganz und gar an den Haaren herbeigezogen geweſen, das Volk, von den Buddhiſten bis zu den Chriſten, hätte ihn doch für einen gerechten erklärt. Wo das Vaterland in das Spiel kommt, hört jedes Gerechtigkeitsgefühl und jede Selbſterkenntnis auf. Spionage und Verrat, Gift und Dolch, Raub und Mord werden in ſeinem Dienſt geheiligt. Macchiavellis Grundſätze, wie er ſie in ſeinem jeſuitenwürdigen Buche „El Principe“ entwickelt hat, ſind hier zur That ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/173
Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/173>, abgerufen am 24.11.2024.