Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

töten; es würden gewiß auch bald die Aasgeier kommen
und sie holen. Auch die Behandlung der Pferde ist
eine schlechte. Wenn man im Gebirge zu Pferde reisen
will, so thut man gut daran, sich zuvor den Sattel
aufdecken zu lassen. Nicht selten sieht man darunter
das rohe Fleisch. Alles in allem dürften in den Ländern
des Buddhismus Tierschutzvereine zum wenigsten ebenso
gut angebracht sein als in denen des Christentums.

Es versteht sich von selbst, daß das vorstehende
Charakterbild des Japaners nicht wie ein Leisten ist,
über welchen sich alle einzelnen Individuen schlagen
lassen. Es ist ein Volkscharakter, und als solcher muß
er verstanden werden. Setzen wir nun aus den einzelnen
Strichen das Gesamtbild zusammen, so ist leicht zu er-
sehen, daß der Japaner eine in sich geschlossene Per-
sönlichkeit ist. Sprache und Geistesleben, Temperament
und Gefühlsleben -- alles gehört harmonisch zusammen;
ein Zug paßt zu dem andern und jeder Zug zu dem
Ganzen. Der Japaner ist von uns zwar sehr ver-
schieden, aber er ist doch wieder ein Mensch wie andere
Menschen auch. Er ist kein Engel, und niemand wird
dem Dichter Motoori glauben, wenn er in seiner Be-
geisterung singt:

"Shikishima no
Yamato-gokoro wo
Hito towaba,
Asa-hi ni niou
Yama-zakura-bana"
"Möcht' jemand gern von dir erfahren,
Was Japans echte Söhne sind,
Zeig' auf die wilde Kirschenblüte,
Die in der Morgensonne duftet."

töten; es würden gewiß auch bald die Aasgeier kommen
und ſie holen. Auch die Behandlung der Pferde iſt
eine ſchlechte. Wenn man im Gebirge zu Pferde reiſen
will, ſo thut man gut daran, ſich zuvor den Sattel
aufdecken zu laſſen. Nicht ſelten ſieht man darunter
das rohe Fleiſch. Alles in allem dürften in den Ländern
des Buddhismus Tierſchutzvereine zum wenigſten ebenſo
gut angebracht ſein als in denen des Chriſtentums.

Es verſteht ſich von ſelbſt, daß das vorſtehende
Charakterbild des Japaners nicht wie ein Leiſten iſt,
über welchen ſich alle einzelnen Individuen ſchlagen
laſſen. Es iſt ein Volkscharakter, und als ſolcher muß
er verſtanden werden. Setzen wir nun aus den einzelnen
Strichen das Geſamtbild zuſammen, ſo iſt leicht zu er-
ſehen, daß der Japaner eine in ſich geſchloſſene Per-
ſönlichkeit iſt. Sprache und Geiſtesleben, Temperament
und Gefühlsleben — alles gehört harmoniſch zuſammen;
ein Zug paßt zu dem andern und jeder Zug zu dem
Ganzen. Der Japaner iſt von uns zwar ſehr ver-
ſchieden, aber er iſt doch wieder ein Menſch wie andere
Menſchen auch. Er iſt kein Engel, und niemand wird
dem Dichter Motoori glauben, wenn er in ſeiner Be-
geiſterung ſingt:

„Shikishima no
Yamato-gokoro wo
Hito towaba,
Asa-hi ni niou
Yama-zakura-bana“
„Möcht’ jemand gern von dir erfahren,
Was Japans echte Söhne ſind,
Zeig’ auf die wilde Kirſchenblüte,
Die in der Morgenſonne duftet.“
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0139" n="125"/>
töten; es würden gewiß auch bald die Aasgeier kommen<lb/>
und &#x017F;ie holen. Auch die Behandlung der Pferde i&#x017F;t<lb/>
eine &#x017F;chlechte. Wenn man im Gebirge zu Pferde rei&#x017F;en<lb/>
will, &#x017F;o thut man gut daran, &#x017F;ich zuvor den Sattel<lb/>
aufdecken zu la&#x017F;&#x017F;en. Nicht &#x017F;elten &#x017F;ieht man darunter<lb/>
das rohe Flei&#x017F;ch. Alles in allem dürften in den Ländern<lb/>
des Buddhismus Tier&#x017F;chutzvereine zum wenig&#x017F;ten eben&#x017F;o<lb/>
gut angebracht &#x017F;ein als in denen des Chri&#x017F;tentums.</p><lb/>
        <p>Es ver&#x017F;teht &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t, daß das vor&#x017F;tehende<lb/>
Charakterbild des Japaners nicht wie ein Lei&#x017F;ten i&#x017F;t,<lb/>
über welchen &#x017F;ich alle einzelnen Individuen &#x017F;chlagen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en. Es i&#x017F;t ein Volkscharakter, und als &#x017F;olcher muß<lb/>
er ver&#x017F;tanden werden. Setzen wir nun aus den einzelnen<lb/>
Strichen das Ge&#x017F;amtbild zu&#x017F;ammen, &#x017F;o i&#x017F;t leicht zu er-<lb/>
&#x017F;ehen, daß der Japaner eine in &#x017F;ich ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene Per-<lb/>
&#x017F;önlichkeit i&#x017F;t. Sprache und Gei&#x017F;tesleben, Temperament<lb/>
und Gefühlsleben &#x2014; alles gehört harmoni&#x017F;ch zu&#x017F;ammen;<lb/>
ein Zug paßt zu dem andern und jeder Zug zu dem<lb/>
Ganzen. Der Japaner i&#x017F;t von uns zwar &#x017F;ehr ver-<lb/>
&#x017F;chieden, aber er i&#x017F;t doch wieder ein Men&#x017F;ch wie andere<lb/>
Men&#x017F;chen auch. Er i&#x017F;t kein Engel, und niemand wird<lb/>
dem Dichter Motoori glauben, wenn er in &#x017F;einer Be-<lb/>
gei&#x017F;terung &#x017F;ingt:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l> <hi rendition="#aq">&#x201E;Shikishima no</hi> </l><lb/>
          <l> <hi rendition="#aq">Yamato-gokoro wo</hi> </l><lb/>
          <l> <hi rendition="#aq">Hito towaba,</hi> </l><lb/>
          <l> <hi rendition="#aq">Asa-hi ni niou</hi> </l><lb/>
          <l> <hi rendition="#aq">Yama-zakura-bana&#x201C;</hi> </l>
        </lg><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x201E;Möcht&#x2019; jemand gern von dir erfahren,</l><lb/>
          <l>Was Japans echte Söhne &#x017F;ind,</l><lb/>
          <l>Zeig&#x2019; auf die wilde Kir&#x017F;chenblüte,</l><lb/>
          <l>Die in der Morgen&#x017F;onne duftet.&#x201C;</l>
        </lg><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0139] töten; es würden gewiß auch bald die Aasgeier kommen und ſie holen. Auch die Behandlung der Pferde iſt eine ſchlechte. Wenn man im Gebirge zu Pferde reiſen will, ſo thut man gut daran, ſich zuvor den Sattel aufdecken zu laſſen. Nicht ſelten ſieht man darunter das rohe Fleiſch. Alles in allem dürften in den Ländern des Buddhismus Tierſchutzvereine zum wenigſten ebenſo gut angebracht ſein als in denen des Chriſtentums. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß das vorſtehende Charakterbild des Japaners nicht wie ein Leiſten iſt, über welchen ſich alle einzelnen Individuen ſchlagen laſſen. Es iſt ein Volkscharakter, und als ſolcher muß er verſtanden werden. Setzen wir nun aus den einzelnen Strichen das Geſamtbild zuſammen, ſo iſt leicht zu er- ſehen, daß der Japaner eine in ſich geſchloſſene Per- ſönlichkeit iſt. Sprache und Geiſtesleben, Temperament und Gefühlsleben — alles gehört harmoniſch zuſammen; ein Zug paßt zu dem andern und jeder Zug zu dem Ganzen. Der Japaner iſt von uns zwar ſehr ver- ſchieden, aber er iſt doch wieder ein Menſch wie andere Menſchen auch. Er iſt kein Engel, und niemand wird dem Dichter Motoori glauben, wenn er in ſeiner Be- geiſterung ſingt: „Shikishima no Yamato-gokoro wo Hito towaba, Asa-hi ni niou Yama-zakura-bana“ „Möcht’ jemand gern von dir erfahren, Was Japans echte Söhne ſind, Zeig’ auf die wilde Kirſchenblüte, Die in der Morgenſonne duftet.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/139
Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/139>, abgerufen am 17.05.2024.