Es ist eine bekannte Erscheinung, daß Land und Leute, Natur und Mensch im innigsten Zusammenhang mit einander stehen. Wie der Mensch dem Grund und Bo- den den Stempel seines Geistes aufdrückt, so wird sein Cha- rakter mannigfach beeinflußt durch die Natur, in der er lebt. Die Haide des Nordens ist nicht ohne Anteil an dem sinnigen, phlegmatischen Temperament ihrer Bewohner, und die Söhne der freien Schweiz haben vieles gemein mit dem freien, starken, trotzigen Charakter ihrer ra- genden Berge. Die Erfahrung bestätigt, daß die äuße- ren Gliedmaßen der Amerikaner, besonders Hände und Füße, allmählich, von Geschlecht zu Geschlecht, lang und schmal werden wie die der Indianer. Es ist der Ein- fluß des Bodens, der solches schafft.
Wenn aber irgendwo ein Volk mit seinem Lande innig verwachsen ist, so ist es das Volk der Japaner. Die Leute sind das genaue geistige Widerspiel des Bodens, der sie trägt. Gleichwie das Land mit seinen Schön- heiten und seinen Schrecken ein doppeltes Ansehen hat, so hat auch das Volk ein Janusgesicht. Wie die Schön- heiten des Landes offen daliegen, daß auch der ober- flächliche Blick sie sehen und würdigen muß, so ist das erste, was an dem Volke auffällt, seine Sauberkeit, Freundlichkeit und scheinbare kindliche Harmlosigkeit, all die anmutenden Züge einer ästhetischen Lebensführung,
IV. Temperament und Gefühlsleben.
Es iſt eine bekannte Erſcheinung, daß Land und Leute, Natur und Menſch im innigſten Zuſammenhang mit einander ſtehen. Wie der Menſch dem Grund und Bo- den den Stempel ſeines Geiſtes aufdrückt, ſo wird ſein Cha- rakter mannigfach beeinflußt durch die Natur, in der er lebt. Die Haide des Nordens iſt nicht ohne Anteil an dem ſinnigen, phlegmatiſchen Temperament ihrer Bewohner, und die Söhne der freien Schweiz haben vieles gemein mit dem freien, ſtarken, trotzigen Charakter ihrer ra- genden Berge. Die Erfahrung beſtätigt, daß die äuße- ren Gliedmaßen der Amerikaner, beſonders Hände und Füße, allmählich, von Geſchlecht zu Geſchlecht, lang und ſchmal werden wie die der Indianer. Es iſt der Ein- fluß des Bodens, der ſolches ſchafft.
Wenn aber irgendwo ein Volk mit ſeinem Lande innig verwachſen iſt, ſo iſt es das Volk der Japaner. Die Leute ſind das genaue geiſtige Widerſpiel des Bodens, der ſie trägt. Gleichwie das Land mit ſeinen Schön- heiten und ſeinen Schrecken ein doppeltes Anſehen hat, ſo hat auch das Volk ein Janusgeſicht. Wie die Schön- heiten des Landes offen daliegen, daß auch der ober- flächliche Blick ſie ſehen und würdigen muß, ſo iſt das erſte, was an dem Volke auffällt, ſeine Sauberkeit, Freundlichkeit und ſcheinbare kindliche Harmloſigkeit, all die anmutenden Züge einer äſthetiſchen Lebensführung,
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[[96]/0110]
IV. Temperament und Gefühlsleben.
Es iſt eine bekannte Erſcheinung, daß Land und
Leute, Natur und Menſch im innigſten Zuſammenhang
mit einander ſtehen. Wie der Menſch dem Grund und Bo-
den den Stempel ſeines Geiſtes aufdrückt, ſo wird ſein Cha-
rakter mannigfach beeinflußt durch die Natur, in der er lebt.
Die Haide des Nordens iſt nicht ohne Anteil an dem
ſinnigen, phlegmatiſchen Temperament ihrer Bewohner,
und die Söhne der freien Schweiz haben vieles gemein
mit dem freien, ſtarken, trotzigen Charakter ihrer ra-
genden Berge. Die Erfahrung beſtätigt, daß die äuße-
ren Gliedmaßen der Amerikaner, beſonders Hände und
Füße, allmählich, von Geſchlecht zu Geſchlecht, lang und
ſchmal werden wie die der Indianer. Es iſt der Ein-
fluß des Bodens, der ſolches ſchafft.
Wenn aber irgendwo ein Volk mit ſeinem Lande
innig verwachſen iſt, ſo iſt es das Volk der Japaner.
Die Leute ſind das genaue geiſtige Widerſpiel des Bodens,
der ſie trägt. Gleichwie das Land mit ſeinen Schön-
heiten und ſeinen Schrecken ein doppeltes Anſehen hat,
ſo hat auch das Volk ein Janusgeſicht. Wie die Schön-
heiten des Landes offen daliegen, daß auch der ober-
flächliche Blick ſie ſehen und würdigen muß, ſo iſt das
erſte, was an dem Volke auffällt, ſeine Sauberkeit,
Freundlichkeit und ſcheinbare kindliche Harmloſigkeit, all
die anmutenden Züge einer äſthetiſchen Lebensführung,
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. [96]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/110>, abgerufen am 24.11.2024.
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