ohne Scheu -- diesen Adel im Bürgerleben möcht' ich Ihnen lebendig vor die Augen halten können, um zu zeigen, was tiers-etat ist.
Dieser christliche, nicht Römische, Bürger- Charakter mußte frei und selbstständig, d. h. dem Adel und der Geistlichkeit gegenüber, -- denn wo ist Freiheit ohne Nebenfreiheit, und Selbst- ständigkeit eines Standes ohne Gegenselbstständig- keit Andrer -- ausgebildet seyn, ehe Columbus und Vasco di Gama ihre Segel ausspannen durften. Hernach, durch die Entdeckungen des Seeweges nach Ostindien, und Amerika's, verlor sich dieser edlere bürgerliche Charakter, wie er sich als eigentlicher Stand zeigte: er ging unter in dem allgemeinen Streben nach Gold, Handel und Indien, welches alle Stände ergriff und sie im Herzen gleich machte, welches Streben, von unserm erleuchteten Jahrhundert auspolirt, raf- finirt und romanisirt, nunmehr in die Aller- weltsbürgerlichkeit und in den Gottesdienst der Industrie und des reinen Einkommens überge- gangen ist, die aller Nationalität bald ein Ende, und uns Alle im Elende gleich gemacht haben werden. Die unendlichen Aussichten, welche das Christenthum dem Geiste eröffnet, und welche den kleinsten Besitzthümern und allen politischen Ver- hältnissen ein von den antiken Gesetzen durchaus
ohne Scheu — dieſen Adel im Buͤrgerleben moͤcht’ ich Ihnen lebendig vor die Augen halten koͤnnen, um zu zeigen, was tiers-état iſt.
Dieſer chriſtliche, nicht Roͤmiſche, Buͤrger- Charakter mußte frei und ſelbſtſtaͤndig, d. h. dem Adel und der Geiſtlichkeit gegenuͤber, — denn wo iſt Freiheit ohne Nebenfreiheit, und Selbſt- ſtaͤndigkeit eines Standes ohne Gegenſelbſtſtaͤndig- keit Andrer — ausgebildet ſeyn, ehe Columbus und Vasco di Gama ihre Segel ausſpannen durften. Hernach, durch die Entdeckungen des Seeweges nach Oſtindien, und Amerika’s, verlor ſich dieſer edlere buͤrgerliche Charakter, wie er ſich als eigentlicher Stand zeigte: er ging unter in dem allgemeinen Streben nach Gold, Handel und Indien, welches alle Staͤnde ergriff und ſie im Herzen gleich machte, welches Streben, von unſerm erleuchteten Jahrhundert auspolirt, raf- finirt und romaniſirt, nunmehr in die Aller- weltsbuͤrgerlichkeit und in den Gottesdienſt der Induſtrie und des reinen Einkommens uͤberge- gangen iſt, die aller Nationalitaͤt bald ein Ende, und uns Alle im Elende gleich gemacht haben werden. Die unendlichen Ausſichten, welche das Chriſtenthum dem Geiſte eroͤffnet, und welche den kleinſten Beſitzthuͤmern und allen politiſchen Ver- haͤltniſſen ein von den antiken Geſetzen durchaus
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ohne Scheu — dieſen Adel im Buͤrgerleben
moͤcht’ ich Ihnen lebendig vor die Augen halten
koͤnnen, um zu zeigen, was tiers-état iſt.
Dieſer chriſtliche, nicht Roͤmiſche, Buͤrger-
Charakter mußte frei und ſelbſtſtaͤndig, d. h. dem
Adel und der Geiſtlichkeit gegenuͤber, — denn
wo iſt Freiheit ohne Nebenfreiheit, und Selbſt-
ſtaͤndigkeit eines Standes ohne Gegenſelbſtſtaͤndig-
keit Andrer — ausgebildet ſeyn, ehe Columbus
und Vasco di Gama ihre Segel ausſpannen
durften. Hernach, durch die Entdeckungen des
Seeweges nach Oſtindien, und Amerika’s, verlor
ſich dieſer edlere buͤrgerliche Charakter, wie er
ſich als eigentlicher Stand zeigte: er ging unter
in dem allgemeinen Streben nach Gold, Handel
und Indien, welches alle Staͤnde ergriff und ſie
im Herzen gleich machte, welches Streben, von
unſerm erleuchteten Jahrhundert auspolirt, raf-
finirt und romaniſirt, nunmehr in die Aller-
weltsbuͤrgerlichkeit und in den Gottesdienſt der
Induſtrie und des reinen Einkommens uͤberge-
gangen iſt, die aller Nationalitaͤt bald ein Ende,
und uns Alle im Elende gleich gemacht haben
werden. Die unendlichen Ausſichten, welche das
Chriſtenthum dem Geiſte eroͤffnet, und welche den
kleinſten Beſitzthuͤmern und allen politiſchen Ver-
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809/140>, abgerufen am 22.11.2024.
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