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Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.

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tun haben und die uns ohne weiteres einstellen auf Poesie. Sie sind nicht pmu_086.002
unwichtig, denn sie geben uns gleichsam ein Zeichen, uns in besonderer pmu_086.003
Weise zu verhalten, und in der Tat kann es vorkommen, daß man in gewöhnlichem pmu_086.004
Druck geschriebene Verse, die in keiner Weise als solche markiert pmu_086.005
sind, zunächst als Prosa liest, ohne es zu merken. Dann allerdings pmu_086.006
machen sich auch die zunächst nicht so sichtbaren inneren Mittel geltend. pmu_086.007
Die regelmäßige Anordnung der Silben nach ihrem Akzente, vor allem pmu_086.008
das Vermeiden aller Anstöße und Hemmungen, wie sie die Prosa vielfach pmu_086.009
hat, die Auswahl der Klangwirkungen usw., alles das ermöglicht, ja erzwingt pmu_086.010
das Sprechen in einem besonders gehobenen Tonfall, der nach pmu_086.011
unsrer Lehre das Wesen der poetischen Wirkung ausmacht.

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Dieser gehobene Tonfall nun setzt sich aus mehreren, ihrer Herkunft pmu_086.013
nach verschiedenen Elementen zusammen. Da ist zunächst die von Sievers pmu_086.014
nachgewiesene Sprachmelodie, die wieder verschiedene Faktoren hat: pmu_086.015
die spezifische Tonlage, die spezifische Jntervallgröße, die spezifische Tonführung, pmu_086.016
die entweder frei oder gebunden ist, ferner die Anwendung pmu_086.017
spezifischer Tonschritte, speziell besonderer Verseingänge und Kadenzen pmu_086.018
und zuletzt die Hervorhebung bestimmter Melodieträger. Hierin aber berührt pmu_086.019
sich die Sprachmelodie meist mit der Dynamik des Verses, der Rhythmisierung. pmu_086.020
Auch das Ethos des Verses ist innerlich verknüpft mit der pmu_086.021
Sprachmelodie und nicht von ihr zu trennen, da es sie zum großen Teile pmu_086.022
mitbedingt. Natürlich bleiben bei aller Nezessitierung des gehobenen pmu_086.023
Sprechtons noch große individuelle Unterschiede möglich. Auch die einzelnen pmu_086.024
Zeitmoden und Nationen verfahren verschieden. Manche lassen pmu_086.025
mehr die Rhythmik und das Versmelos hervortreten, andre wieder ordnen pmu_086.026
alles ganz dem Ethos unter. So lassen die französischen Schauspieler pmu_086.027
viel mehr den spezifischen Versklang zur Geltung kommen als die deutschen, pmu_086.028
denen das Ethos wichtiger ist, obwohl auch in Deutschland Unterschiede pmu_086.029
bestanden und noch bestehen.

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Dieser gehobene Sprechton also ist das eigentliche Medium der Verswirkung. pmu_086.031
Mit derselben notwendigen Bedingtheit, mit der er sich dem pmu_086.032
Lesenden aufzwingt, wirkt er auch auf den Hörer. Besonders wenn Leser pmu_086.033
und Hörer eine Person sind, macht sich das geltend. Aber auch, wenn pmu_086.034
ein besonderer Hörer da ist, kommen ihm alle jene Faktoren zugute, die pmu_086.035
dem Selbstleser günstig sind. Es sind nicht nur motorische Annehmlichkeiten, pmu_086.036
welche durch die Ordnung des Rhythmus, die Vermeidung von pmu_086.037
Hiaten usw. bedingt werden, alles das wirkt auch akustisch wohlgefällig, pmu_086.038
weil dadurch Anstöße und Hemmungen vermieden sind und, wie im Reim,

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tun haben und die uns ohne weiteres einstellen auf Poesie. Sie sind nicht pmu_086.002
unwichtig, denn sie geben uns gleichsam ein Zeichen, uns in besonderer pmu_086.003
Weise zu verhalten, und in der Tat kann es vorkommen, daß man in gewöhnlichem pmu_086.004
Druck geschriebene Verse, die in keiner Weise als solche markiert pmu_086.005
sind, zunächst als Prosa liest, ohne es zu merken. Dann allerdings pmu_086.006
machen sich auch die zunächst nicht so sichtbaren inneren Mittel geltend. pmu_086.007
Die regelmäßige Anordnung der Silben nach ihrem Akzente, vor allem pmu_086.008
das Vermeiden aller Anstöße und Hemmungen, wie sie die Prosa vielfach pmu_086.009
hat, die Auswahl der Klangwirkungen usw., alles das ermöglicht, ja erzwingt pmu_086.010
das Sprechen in einem besonders gehobenen Tonfall, der nach pmu_086.011
unsrer Lehre das Wesen der poetischen Wirkung ausmacht.

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Dieser gehobene Tonfall nun setzt sich aus mehreren, ihrer Herkunft pmu_086.013
nach verschiedenen Elementen zusammen. Da ist zunächst die von Sievers pmu_086.014
nachgewiesene Sprachmelodie, die wieder verschiedene Faktoren hat: pmu_086.015
die spezifische Tonlage, die spezifische Jntervallgröße, die spezifische Tonführung, pmu_086.016
die entweder frei oder gebunden ist, ferner die Anwendung pmu_086.017
spezifischer Tonschritte, speziell besonderer Verseingänge und Kadenzen pmu_086.018
und zuletzt die Hervorhebung bestimmter Melodieträger. Hierin aber berührt pmu_086.019
sich die Sprachmelodie meist mit der Dynamik des Verses, der Rhythmisierung. pmu_086.020
Auch das Ethos des Verses ist innerlich verknüpft mit der pmu_086.021
Sprachmelodie und nicht von ihr zu trennen, da es sie zum großen Teile pmu_086.022
mitbedingt. Natürlich bleiben bei aller Nezessitierung des gehobenen pmu_086.023
Sprechtons noch große individuelle Unterschiede möglich. Auch die einzelnen pmu_086.024
Zeitmoden und Nationen verfahren verschieden. Manche lassen pmu_086.025
mehr die Rhythmik und das Versmelos hervortreten, andre wieder ordnen pmu_086.026
alles ganz dem Ethos unter. So lassen die französischen Schauspieler pmu_086.027
viel mehr den spezifischen Versklang zur Geltung kommen als die deutschen, pmu_086.028
denen das Ethos wichtiger ist, obwohl auch in Deutschland Unterschiede pmu_086.029
bestanden und noch bestehen.

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Dieser gehobene Sprechton also ist das eigentliche Medium der Verswirkung. pmu_086.031
Mit derselben notwendigen Bedingtheit, mit der er sich dem pmu_086.032
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ein besonderer Hörer da ist, kommen ihm alle jene Faktoren zugute, die pmu_086.035
dem Selbstleser günstig sind. Es sind nicht nur motorische Annehmlichkeiten, pmu_086.036
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Zitationshilfe: Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_poetik_1914/96>, abgerufen am 24.11.2024.