Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_060.001 2. Die Überlieferung gibt uns als erste ausgebildete Form das Epos, pmu_060.022 pmu_060.001 2. Die Überlieferung gibt uns als erste ausgebildete Form das Epos, pmu_060.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0070" n="60"/><lb n="pmu_060.001"/> Gattungen allein zuzurechnen ist, wohl aber Elemente von allen dreien, <lb n="pmu_060.002"/> dazu noch Elemente der Musik und des Tanzes enthält. — Wir kennen die <lb n="pmu_060.003"/> Existenz derartiger Werke aus der Kunst heutiger primitiver Völker, und <lb n="pmu_060.004"/> auch die ältesten Beispiele der großen Literaturen lassen das erschließen, <lb n="pmu_060.005"/> daß die älteste Dichtung ein episches Element enthielt als Darstellung <lb n="pmu_060.006"/> irgendeines Faktums, daß dieser Bericht aber viel weniger auf sachliche <lb n="pmu_060.007"/> Darstellung als auf Gefühlserregung ausging und daher sich der Lyrik <lb n="pmu_060.008"/> näherte, daß er meist gesungen und mit Tanz und Mimik begleitet wurde, <lb n="pmu_060.009"/> so daß auch bereits dramatische Elemente darinnen sind. So sind die ältesten <lb n="pmu_060.010"/> Siegeslieder der hebräischen Poesie: „Mirjam die Prophetin nahm <lb n="pmu_060.011"/> eine Pauke in die Hand; und alle Weiber folgten ihr hinaus mit Pauken <lb n="pmu_060.012"/> am Reigen. Und Mirjam sang ihnen vor: Lasset uns dem Herrn singen, <lb n="pmu_060.013"/> denn er hat eine herrliche Tat getan, Mann und Roß hat er ins Meer gestürzt“ <lb n="pmu_060.014"/> (2. Mos. 15, 20). Und ähnlich ist das Siegeslied 1. Sam. 18, 7 <lb n="pmu_060.015"/> nach Davids Sieg über Goliath: „Die Weiber sangen gegeneinander und <lb n="pmu_060.016"/> spielten und sprachen: Saul hat tausend geschlagen, aber David zehntausend!“ <lb n="pmu_060.017"/> Hier tritt deutlich neben dem Episch-Lyrisch-Musikalischen auch das <lb n="pmu_060.018"/> Dramatische heraus. Und diese Gesänge sind ganz von derselben Art, wie <lb n="pmu_060.019"/> wir sie noch heute bei primitiven Völkern finden und die wir daher als <lb n="pmu_060.020"/> die Urzelle für alle spätere Dichtung ansehen dürfen.</p> <lb n="pmu_060.021"/> </div> <div n="3"> <p> 2. Die Überlieferung gibt uns als erste ausgebildete Form das Epos, <lb n="pmu_060.022"/> indessen läßt die genaue Betrachtung darin wieder ältere Elemente erkennen <lb n="pmu_060.023"/> (auch Funde wie das Hildebrandslied stützen das), die mehr balladenhaft-lyrischen <lb n="pmu_060.024"/> Charakter tragen, aber vermutlich auch dem Vortragenden <lb n="pmu_060.025"/> zu allerlei dramatischen Künsten Gelegenheit geben. Dazu ist der <lb n="pmu_060.026"/> Umstand, daß reine Lyrik in frühester Zeit nicht aufgezeichnet wurde, <lb n="pmu_060.027"/> kein Beweis dafür, daß sie nicht vorhanden gewesen sei. Eine ausgebildete <lb n="pmu_060.028"/> dramatische Kunst freilich setzt eine gewisse Höhe der äußeren Zivilisation <lb n="pmu_060.029"/> voraus, doch finden wir bereits bei Australiern und andern ganz <lb n="pmu_060.030"/> primitiven Völkern Tanzübungen, die an Dramatik gemahnen, und eines <lb n="pmu_060.031"/> der ältesten Denkmäler der französischen Literatur, der Sponsus, ist dramatisch. <lb n="pmu_060.032"/> Wir werden also mit aller Vorsicht nur sagen können, daß die <lb n="pmu_060.033"/> Formen der Darbietung, wie wir sie heute finden, sich in langsamer Entwicklung <lb n="pmu_060.034"/> ausgeprägt haben, aus einer Kunstübung heraus, die noch ziemlich <lb n="pmu_060.035"/> undifferenziert die verschiedenen Elemente vermischt enthielt. Und <lb n="pmu_060.036"/> es wird sich zeigen lassen, daß auch heute noch diese Entwicklung nicht stille <lb n="pmu_060.037"/> steht, sondern auf immer größere Differenzierung ausgeht. So steht der <lb n="pmu_060.038"/> moderne Roman in der Form der Lyrik ferner als das Versepos, das </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [60/0070]
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Gattungen allein zuzurechnen ist, wohl aber Elemente von allen dreien, pmu_060.002
dazu noch Elemente der Musik und des Tanzes enthält. — Wir kennen die pmu_060.003
Existenz derartiger Werke aus der Kunst heutiger primitiver Völker, und pmu_060.004
auch die ältesten Beispiele der großen Literaturen lassen das erschließen, pmu_060.005
daß die älteste Dichtung ein episches Element enthielt als Darstellung pmu_060.006
irgendeines Faktums, daß dieser Bericht aber viel weniger auf sachliche pmu_060.007
Darstellung als auf Gefühlserregung ausging und daher sich der Lyrik pmu_060.008
näherte, daß er meist gesungen und mit Tanz und Mimik begleitet wurde, pmu_060.009
so daß auch bereits dramatische Elemente darinnen sind. So sind die ältesten pmu_060.010
Siegeslieder der hebräischen Poesie: „Mirjam die Prophetin nahm pmu_060.011
eine Pauke in die Hand; und alle Weiber folgten ihr hinaus mit Pauken pmu_060.012
am Reigen. Und Mirjam sang ihnen vor: Lasset uns dem Herrn singen, pmu_060.013
denn er hat eine herrliche Tat getan, Mann und Roß hat er ins Meer gestürzt“ pmu_060.014
(2. Mos. 15, 20). Und ähnlich ist das Siegeslied 1. Sam. 18, 7 pmu_060.015
nach Davids Sieg über Goliath: „Die Weiber sangen gegeneinander und pmu_060.016
spielten und sprachen: Saul hat tausend geschlagen, aber David zehntausend!“ pmu_060.017
Hier tritt deutlich neben dem Episch-Lyrisch-Musikalischen auch das pmu_060.018
Dramatische heraus. Und diese Gesänge sind ganz von derselben Art, wie pmu_060.019
wir sie noch heute bei primitiven Völkern finden und die wir daher als pmu_060.020
die Urzelle für alle spätere Dichtung ansehen dürfen.
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2. Die Überlieferung gibt uns als erste ausgebildete Form das Epos, pmu_060.022
indessen läßt die genaue Betrachtung darin wieder ältere Elemente erkennen pmu_060.023
(auch Funde wie das Hildebrandslied stützen das), die mehr balladenhaft-lyrischen pmu_060.024
Charakter tragen, aber vermutlich auch dem Vortragenden pmu_060.025
zu allerlei dramatischen Künsten Gelegenheit geben. Dazu ist der pmu_060.026
Umstand, daß reine Lyrik in frühester Zeit nicht aufgezeichnet wurde, pmu_060.027
kein Beweis dafür, daß sie nicht vorhanden gewesen sei. Eine ausgebildete pmu_060.028
dramatische Kunst freilich setzt eine gewisse Höhe der äußeren Zivilisation pmu_060.029
voraus, doch finden wir bereits bei Australiern und andern ganz pmu_060.030
primitiven Völkern Tanzübungen, die an Dramatik gemahnen, und eines pmu_060.031
der ältesten Denkmäler der französischen Literatur, der Sponsus, ist dramatisch. pmu_060.032
Wir werden also mit aller Vorsicht nur sagen können, daß die pmu_060.033
Formen der Darbietung, wie wir sie heute finden, sich in langsamer Entwicklung pmu_060.034
ausgeprägt haben, aus einer Kunstübung heraus, die noch ziemlich pmu_060.035
undifferenziert die verschiedenen Elemente vermischt enthielt. Und pmu_060.036
es wird sich zeigen lassen, daß auch heute noch diese Entwicklung nicht stille pmu_060.037
steht, sondern auf immer größere Differenzierung ausgeht. So steht der pmu_060.038
moderne Roman in der Form der Lyrik ferner als das Versepos, das
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