Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_019.001 Was zunächst den Begriff des Typus selber anlangt, so definiere pmu_019.025 pmu_019.001 Was zunächst den Begriff des Typus selber anlangt, so definiere pmu_019.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0029" n="19"/><lb n="pmu_019.001"/> das Wesen des Dichters zu erfassen, so werden wir von vornherein zugeben <lb n="pmu_019.002"/> müssen, daß eine einheitliche Formel dafür nicht zu finden ist. Wir <lb n="pmu_019.003"/> wollen darum nicht in den Fehler mancher früheren Ästhetiker verfallen, <lb n="pmu_019.004"/> alle Verschiedenheiten in das Prokrustesbett einer einheitlichen Formel <lb n="pmu_019.005"/> zu pressen. Wir wollen vielmehr uns gerade umgekehrt die ganze <hi rendition="#g">Mannigfaltigkeit</hi> <lb n="pmu_019.006"/> zum Bewußtsein bringen, soweit es in unserm engen <lb n="pmu_019.007"/> Rahmen möglich ist, und dabei insofern eine gewisse Ordnung in der <lb n="pmu_019.008"/> Fülle des Materials schaffen, daß wir die wichtigsten <hi rendition="#g">Typen</hi> aussondern. <lb n="pmu_019.009"/> Jndem wir aber die verschiedenen Typen Revue passieren lassen, ergeben <lb n="pmu_019.010"/> sich uns zugleich auch die wichtigsten <hi rendition="#g">psychischen Funktionen,</hi> <lb n="pmu_019.011"/> die in der poetischen Produktion besonders hervortreten. Denn wir sondern <lb n="pmu_019.012"/> die einzelnen Typen eben danach, welche psychische Funktion besonders <lb n="pmu_019.013"/> hervortritt im Schaffen des einzelnen, so daß wir den Vorteil haben, <lb n="pmu_019.014"/> wenn wir solche Typen beschreiben, daß sich diese Funktion zugleich <lb n="pmu_019.015"/> in markantester Ausbildung darstellt. Freilich, wenn wir im folgenden nun <lb n="pmu_019.016"/> versuchen, die wichtigsten Typen von Dichterbegabungen aufzuzeigen, <lb n="pmu_019.017"/> so werden wir sehen, daß sich so ziemlich alle Arten von menschlichen Begabungen <lb n="pmu_019.018"/> überhaupt auch dichterisch geltend gemacht haben. Wir müßten <lb n="pmu_019.019"/> also eigentlich unsrer Typenübersicht eine Tafel menschlicher Typen überhaupt <lb n="pmu_019.020"/> zugrunde legen. Wer jedoch weiß, wie wenig Sicheres die differentielle <lb n="pmu_019.021"/> Psychologie nach dieser Hinsicht festgelegt hat, wird einsehen, daß es <lb n="pmu_019.022"/> sich hier nur um eine allgemeine Orientierung handeln kann und daß wir uns <lb n="pmu_019.023"/> selber die Wege suchen müssen in einem noch sehr wenig geklärten Dickicht.</p> <lb n="pmu_019.024"/> <p> Was zunächst den <hi rendition="#g">Begriff des Typus</hi> selber anlangt, so definiere <lb n="pmu_019.025"/> ich in Anlehnung an W. Stern: Ein psychologischer Typus ist eine vorwaltende <lb n="pmu_019.026"/> Disposition, die einer Gruppe von Menschen in vergleichbarer <lb n="pmu_019.027"/> Weise zukommt, ohne daß diese Gruppe eindeutig und allseitig gegen <lb n="pmu_019.028"/> andre Gruppen abgegrenzt wäre. — Und zwar sondern wir die Typen <lb n="pmu_019.029"/> nach dem <hi rendition="#g">Überwiegen</hi> einzelner psychischer Funktionen. Damit ist natürlich <lb n="pmu_019.030"/> nicht gesagt, daß der Typus angeboren sein müsse. Jm Gegenteil, <lb n="pmu_019.031"/> wir werden finden, wie Typen geradezu durch äußere Einflüsse umgebogen <lb n="pmu_019.032"/> werden können. Der größeren Klarheit halber werden wir dabei uns <lb n="pmu_019.033"/> des <hi rendition="#g">antitypischen</hi> Schemas bedienen, das heißt desjenigen, das immer <lb n="pmu_019.034"/> zwei Gegensätze kontrastiert, zwischen denen es natürlich stets Übergangs- <lb n="pmu_019.035"/> und Kombinationstypen gibt. Außerdem gibt es eine schier unabsehbare <lb n="pmu_019.036"/> Fülle von Korrelationen zwischen den einzelnen Typenpaaren, Kreuzungen <lb n="pmu_019.037"/> und Verwandtschaften der Anlagen, von denen wir natürlich nur <lb n="pmu_019.038"/> die wichtigsten herausheben können.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [19/0029]
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das Wesen des Dichters zu erfassen, so werden wir von vornherein zugeben pmu_019.002
müssen, daß eine einheitliche Formel dafür nicht zu finden ist. Wir pmu_019.003
wollen darum nicht in den Fehler mancher früheren Ästhetiker verfallen, pmu_019.004
alle Verschiedenheiten in das Prokrustesbett einer einheitlichen Formel pmu_019.005
zu pressen. Wir wollen vielmehr uns gerade umgekehrt die ganze Mannigfaltigkeit pmu_019.006
zum Bewußtsein bringen, soweit es in unserm engen pmu_019.007
Rahmen möglich ist, und dabei insofern eine gewisse Ordnung in der pmu_019.008
Fülle des Materials schaffen, daß wir die wichtigsten Typen aussondern. pmu_019.009
Jndem wir aber die verschiedenen Typen Revue passieren lassen, ergeben pmu_019.010
sich uns zugleich auch die wichtigsten psychischen Funktionen, pmu_019.011
die in der poetischen Produktion besonders hervortreten. Denn wir sondern pmu_019.012
die einzelnen Typen eben danach, welche psychische Funktion besonders pmu_019.013
hervortritt im Schaffen des einzelnen, so daß wir den Vorteil haben, pmu_019.014
wenn wir solche Typen beschreiben, daß sich diese Funktion zugleich pmu_019.015
in markantester Ausbildung darstellt. Freilich, wenn wir im folgenden nun pmu_019.016
versuchen, die wichtigsten Typen von Dichterbegabungen aufzuzeigen, pmu_019.017
so werden wir sehen, daß sich so ziemlich alle Arten von menschlichen Begabungen pmu_019.018
überhaupt auch dichterisch geltend gemacht haben. Wir müßten pmu_019.019
also eigentlich unsrer Typenübersicht eine Tafel menschlicher Typen überhaupt pmu_019.020
zugrunde legen. Wer jedoch weiß, wie wenig Sicheres die differentielle pmu_019.021
Psychologie nach dieser Hinsicht festgelegt hat, wird einsehen, daß es pmu_019.022
sich hier nur um eine allgemeine Orientierung handeln kann und daß wir uns pmu_019.023
selber die Wege suchen müssen in einem noch sehr wenig geklärten Dickicht.
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Was zunächst den Begriff des Typus selber anlangt, so definiere pmu_019.025
ich in Anlehnung an W. Stern: Ein psychologischer Typus ist eine vorwaltende pmu_019.026
Disposition, die einer Gruppe von Menschen in vergleichbarer pmu_019.027
Weise zukommt, ohne daß diese Gruppe eindeutig und allseitig gegen pmu_019.028
andre Gruppen abgegrenzt wäre. — Und zwar sondern wir die Typen pmu_019.029
nach dem Überwiegen einzelner psychischer Funktionen. Damit ist natürlich pmu_019.030
nicht gesagt, daß der Typus angeboren sein müsse. Jm Gegenteil, pmu_019.031
wir werden finden, wie Typen geradezu durch äußere Einflüsse umgebogen pmu_019.032
werden können. Der größeren Klarheit halber werden wir dabei uns pmu_019.033
des antitypischen Schemas bedienen, das heißt desjenigen, das immer pmu_019.034
zwei Gegensätze kontrastiert, zwischen denen es natürlich stets Übergangs- pmu_019.035
und Kombinationstypen gibt. Außerdem gibt es eine schier unabsehbare pmu_019.036
Fülle von Korrelationen zwischen den einzelnen Typenpaaren, Kreuzungen pmu_019.037
und Verwandtschaften der Anlagen, von denen wir natürlich nur pmu_019.038
die wichtigsten herausheben können.
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