Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_010.001 Zum Schlusse sei nochmals bemerkt, daß diese Lehre von der idealisierenden pmu_010.012 7. Wie sich bei unsern bisherigen Darlegungen an vielen Stellen ergeben pmu_010.036 pmu_010.001 Zum Schlusse sei nochmals bemerkt, daß diese Lehre von der idealisierenden pmu_010.012 7. Wie sich bei unsern bisherigen Darlegungen an vielen Stellen ergeben pmu_010.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0020" n="10"/><lb n="pmu_010.001"/> sowohl nach der Seite des Starken, Großen, Gewaltigen hin wie nach der <lb n="pmu_010.002"/> Seite der Feinheit und Jnnigkeit hin. Entscheidend ist nur, daß überhaupt <lb n="pmu_010.003"/> eine Auswahl stattfindet. Die Formung beginnt schon mit der Wahl <lb n="pmu_010.004"/> des Stoffes. Während der Naturalismus lehrte, der Stoff sei gleichgültig, <lb n="pmu_010.005"/> wählt der Jdealist sorgfältig denjenigen Stoff, der seine Lebensgefühle <lb n="pmu_010.006"/> am stärksten und reinsten sich ausdrücken läßt, und innerhalb dieses <lb n="pmu_010.007"/> Stoffes hebt er wiederum alle Einzelheiten hervor, die jene Gesamtidee <lb n="pmu_010.008"/> des Werkes steigern, und er unterdrückt alles, was sie hemmt. So kommt <lb n="pmu_010.009"/> jene Form zustande, die allem Dargestellten einen neuen, tieferen Sinn <lb n="pmu_010.010"/> verleiht, und jene Größe, die es emporhebt über das Alltägliche.</p> <lb n="pmu_010.011"/> <p> Zum Schlusse sei nochmals bemerkt, daß diese Lehre von der idealisierenden <lb n="pmu_010.012"/> Formgebung als Wesen der Kunst nicht etwa ein Dogma ist, <lb n="pmu_010.013"/> sondern daß alle jene Kunstwerke, die sich im Laufe der Zeiten als höchste <lb n="pmu_010.014"/> bewährt haben, dieselben gemeinsamen Züge aufweisen. Daß daneben <lb n="pmu_010.015"/> auch eine naturalistische Kunst bestanden hat, zeigt, daß auch die bloße <lb n="pmu_010.016"/> Lebensverbreiterung ihren Reiz haben kann, zumal eine allzu einseitige <lb n="pmu_010.017"/> Jdealisierung oft eine Reaktion auslöst. Jndessen zeigt es sich, daß der <lb n="pmu_010.018"/> Naturalismus die Objektivität zwar anstrebte, in Wirklichkeit aber nie erreicht <lb n="pmu_010.019"/> hat, da auch er stets eine Formung vornimmt und auch in ihm stets <lb n="pmu_010.020"/> die Subjektivität des Dichters, wenn auch nur schwach und unbewußt, <lb n="pmu_010.021"/> mitwirkt. Die Parole, die der Naturalismus gegen die Jdealisierung zu <lb n="pmu_010.022"/> allen Zeiten ausgegeben hat, ist die „Wahrheit“. Jndessen vergißt er, daß <lb n="pmu_010.023"/> auch Wahrheit nichts Absolutes ist, sondern den verschiedenen Zeiten und <lb n="pmu_010.024"/> Persönlichkeiten sehr Verschiedenes als „wahr“ gegolten hat. Und in der <lb n="pmu_010.025"/> Tat sehen wir, daß sehr idealistisch gesonnene Dichter wie Boileau und <lb n="pmu_010.026"/> Schiller so gut für „Wahrheit“ eingetreten sind wie Zola. — Jm Grunde <lb n="pmu_010.027"/> ist die Frage nebensächlich. Die große Kunst geht jenseits von wahr und <lb n="pmu_010.028"/> falsch. Die einzige Frage ihr gegenüber ist die, ob sie uns ergreift, erschüttert <lb n="pmu_010.029"/> und beseligt. Wahrheit dagegen ist für die Dichtung ein so falscher <lb n="pmu_010.030"/> Maßstab wie ein Meter für Töne oder Farben. Die Welt der Dichtung <lb n="pmu_010.031"/> hat nicht dieselben Dimensionen wie die Welt des Alltags und will <lb n="pmu_010.032"/> mit eigenem Maße gemessen sein. Dieses Maß aber ist der Grad und die <lb n="pmu_010.033"/> Art vor allem ihrer ästhetischen Wirkungsmöglichkeit, wozu allerdings <lb n="pmu_010.034"/> auch ethische, religiöse und andre Wirkungen hinzukommen.</p> <lb n="pmu_010.035"/> </div> <div n="3"> <p> 7. Wie sich bei unsern bisherigen Darlegungen an vielen Stellen ergeben <lb n="pmu_010.036"/> hat, ist es nicht möglich, die Dichtung als ein <hi rendition="#g">rein</hi> ästhetisches Phänomen <lb n="pmu_010.037"/> anzusehen, sondern überall ließen sich, sowohl nach der Entstehung <lb n="pmu_010.038"/> der Werke wie nach ihrer Wirkung, neben den ästhetischen Elementen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [10/0020]
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sowohl nach der Seite des Starken, Großen, Gewaltigen hin wie nach der pmu_010.002
Seite der Feinheit und Jnnigkeit hin. Entscheidend ist nur, daß überhaupt pmu_010.003
eine Auswahl stattfindet. Die Formung beginnt schon mit der Wahl pmu_010.004
des Stoffes. Während der Naturalismus lehrte, der Stoff sei gleichgültig, pmu_010.005
wählt der Jdealist sorgfältig denjenigen Stoff, der seine Lebensgefühle pmu_010.006
am stärksten und reinsten sich ausdrücken läßt, und innerhalb dieses pmu_010.007
Stoffes hebt er wiederum alle Einzelheiten hervor, die jene Gesamtidee pmu_010.008
des Werkes steigern, und er unterdrückt alles, was sie hemmt. So kommt pmu_010.009
jene Form zustande, die allem Dargestellten einen neuen, tieferen Sinn pmu_010.010
verleiht, und jene Größe, die es emporhebt über das Alltägliche.
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Zum Schlusse sei nochmals bemerkt, daß diese Lehre von der idealisierenden pmu_010.012
Formgebung als Wesen der Kunst nicht etwa ein Dogma ist, pmu_010.013
sondern daß alle jene Kunstwerke, die sich im Laufe der Zeiten als höchste pmu_010.014
bewährt haben, dieselben gemeinsamen Züge aufweisen. Daß daneben pmu_010.015
auch eine naturalistische Kunst bestanden hat, zeigt, daß auch die bloße pmu_010.016
Lebensverbreiterung ihren Reiz haben kann, zumal eine allzu einseitige pmu_010.017
Jdealisierung oft eine Reaktion auslöst. Jndessen zeigt es sich, daß der pmu_010.018
Naturalismus die Objektivität zwar anstrebte, in Wirklichkeit aber nie erreicht pmu_010.019
hat, da auch er stets eine Formung vornimmt und auch in ihm stets pmu_010.020
die Subjektivität des Dichters, wenn auch nur schwach und unbewußt, pmu_010.021
mitwirkt. Die Parole, die der Naturalismus gegen die Jdealisierung zu pmu_010.022
allen Zeiten ausgegeben hat, ist die „Wahrheit“. Jndessen vergißt er, daß pmu_010.023
auch Wahrheit nichts Absolutes ist, sondern den verschiedenen Zeiten und pmu_010.024
Persönlichkeiten sehr Verschiedenes als „wahr“ gegolten hat. Und in der pmu_010.025
Tat sehen wir, daß sehr idealistisch gesonnene Dichter wie Boileau und pmu_010.026
Schiller so gut für „Wahrheit“ eingetreten sind wie Zola. — Jm Grunde pmu_010.027
ist die Frage nebensächlich. Die große Kunst geht jenseits von wahr und pmu_010.028
falsch. Die einzige Frage ihr gegenüber ist die, ob sie uns ergreift, erschüttert pmu_010.029
und beseligt. Wahrheit dagegen ist für die Dichtung ein so falscher pmu_010.030
Maßstab wie ein Meter für Töne oder Farben. Die Welt der Dichtung pmu_010.031
hat nicht dieselben Dimensionen wie die Welt des Alltags und will pmu_010.032
mit eigenem Maße gemessen sein. Dieses Maß aber ist der Grad und die pmu_010.033
Art vor allem ihrer ästhetischen Wirkungsmöglichkeit, wozu allerdings pmu_010.034
auch ethische, religiöse und andre Wirkungen hinzukommen.
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7. Wie sich bei unsern bisherigen Darlegungen an vielen Stellen ergeben pmu_010.036
hat, ist es nicht möglich, die Dichtung als ein rein ästhetisches Phänomen pmu_010.037
anzusehen, sondern überall ließen sich, sowohl nach der Entstehung pmu_010.038
der Werke wie nach ihrer Wirkung, neben den ästhetischen Elementen
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