Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_008.001 6. Wie nun haben die großen lebensteigernden, idealisierenden Dichter pmu_008.021 Da der letzte Punkt der entscheidende ist, beginne ich mit ihm. Es ist pmu_008.031 pmu_008.001 6. Wie nun haben die großen lebensteigernden, idealisierenden Dichter pmu_008.021 Da der letzte Punkt der entscheidende ist, beginne ich mit ihm. Es ist pmu_008.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0018" n="8"/><lb n="pmu_008.001"/> für die Poesie im ganzen ist jene Lehre falsch. Man darf über der zu <lb n="pmu_008.002"/> sehr betonten <hi rendition="#g">Ein</hi>heit der Künste ihre <hi rendition="#g">Verschieden</hi>heiten nicht übersehen. <lb n="pmu_008.003"/> Und hier ist als eine Tatsache, die außer allem Zweifel steht, festzuhalten, <lb n="pmu_008.004"/> daß nicht die sprachliche Form, auch nicht die Komposition usw. <lb n="pmu_008.005"/> über den Wert einer Dichtung entschieden haben. Es ist vielmehr ohne <lb n="pmu_008.006"/> weiteres zuzugeben, daß Homer, daß die Epen des Mittelalters, Hamlet, <lb n="pmu_008.007"/> Faust, die meisten aller unsterblichen Werke schlecht komponiert sind, oft <lb n="pmu_008.008"/> nachlässig und ungeschickt in Versbau und Sprache, und daß sie trotzdem <lb n="pmu_008.009"/> die Jahrhunderte überdauern. Der Grund ist eben der, daß es ganz andre <lb n="pmu_008.010"/> Dinge sind, die den wahren Wert einer Dichtung ausmachen. Es ist vor <lb n="pmu_008.011"/> allem die <hi rendition="#g">idealbildende Kraft</hi> der Dichter, daß sie das Leben so bedeutend <lb n="pmu_008.012"/> und gewaltig darzustellen vermochten, daß sie nicht nur ihrer <lb n="pmu_008.013"/> Zeit höchste Erfüllung ihrer Sehnsucht brachten, sondern für alle Zeiten <lb n="pmu_008.014"/> eine Welt schufen, in der das gewöhnliche Leben veredelt und vergrößert <lb n="pmu_008.015"/> erschien. Das aber macht das Wesen der dichterischen Formung aus, die <lb n="pmu_008.016"/> sprachliche Form ist daneben nur sekundär, wenn auch gewiß nicht gleichgültig. <lb n="pmu_008.017"/> Aber sie ist doch nur die <hi rendition="#g">äußere</hi> Form; die <hi rendition="#g">innere</hi> Form, die <lb n="pmu_008.018"/> sich auch ihr sprachliches Gewand erst schafft, ist die <hi rendition="#g">Jdealisierung,</hi> <lb n="pmu_008.019"/> die der Dichter mit seinem Stoffe vornimmt.</p> <lb n="pmu_008.020"/> </div> <div n="3"> <p> 6. Wie nun haben die großen lebensteigernden, idealisierenden Dichter <lb n="pmu_008.021"/> ihren Stoff gebildet? Es ergibt sich da auf den ersten Blick, daß Sophokles <lb n="pmu_008.022"/> ganz anders als Schiller, daß Dante anders als Dostojewski, daß <lb n="pmu_008.023"/> Shakespeare anders als Racine idealisiert haben. Und doch ist wohl nur <lb n="pmu_008.024"/> die <hi rendition="#g">Richtung</hi> der Steigerung verschieden, im letzten Grunde ist das <lb n="pmu_008.025"/> <hi rendition="#g">Wesen</hi> der Jdealisierung bei allen das gleiche. Und zwar besteht es einmal <lb n="pmu_008.026"/> in jenem oben beschriebenen <hi rendition="#g">Formgeben</hi> und anderseits in dem, <lb n="pmu_008.027"/> was ich kurz als das <hi rendition="#g">Ethos der Persönlichkeit</hi> bezeichnen will, das <lb n="pmu_008.028"/> das ganze Werk durchdringt und erst über die Richtung entscheidet, nach <lb n="pmu_008.029"/> der hin idealisiert werden soll.</p> <lb n="pmu_008.030"/> <p> Da der letzte Punkt der entscheidende ist, beginne ich mit ihm. Es ist <lb n="pmu_008.031"/> eine nachweisbar falsche Lehre des Naturalismus, daß der Dichter „objektiv“ <lb n="pmu_008.032"/> sein müsse, daß seine Persönlichkeit verschwinden müsse hinter seinem <lb n="pmu_008.033"/> Werke; gerade das Gegenteil ist richtig, was die historische Erfahrung <lb n="pmu_008.034"/> beweist. Die Welt hat immer diejenigen Dichtungen am höchsten <lb n="pmu_008.035"/> gewertet, aus denen die stärkste Persönlichkeit sprach. Während der konsequente <lb n="pmu_008.036"/> Naturalismus in dem Satze „Kunst ist Natur, gesehen durch ein <lb n="pmu_008.037"/> Temperament“ nur die erste Hälfte betonte und die zweite am liebsten <lb n="pmu_008.038"/> weggelassen hätte, legt der Jdealismus allen Akzent auf den zweiten Teil </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [8/0018]
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für die Poesie im ganzen ist jene Lehre falsch. Man darf über der zu pmu_008.002
sehr betonten Einheit der Künste ihre Verschiedenheiten nicht übersehen. pmu_008.003
Und hier ist als eine Tatsache, die außer allem Zweifel steht, festzuhalten, pmu_008.004
daß nicht die sprachliche Form, auch nicht die Komposition usw. pmu_008.005
über den Wert einer Dichtung entschieden haben. Es ist vielmehr ohne pmu_008.006
weiteres zuzugeben, daß Homer, daß die Epen des Mittelalters, Hamlet, pmu_008.007
Faust, die meisten aller unsterblichen Werke schlecht komponiert sind, oft pmu_008.008
nachlässig und ungeschickt in Versbau und Sprache, und daß sie trotzdem pmu_008.009
die Jahrhunderte überdauern. Der Grund ist eben der, daß es ganz andre pmu_008.010
Dinge sind, die den wahren Wert einer Dichtung ausmachen. Es ist vor pmu_008.011
allem die idealbildende Kraft der Dichter, daß sie das Leben so bedeutend pmu_008.012
und gewaltig darzustellen vermochten, daß sie nicht nur ihrer pmu_008.013
Zeit höchste Erfüllung ihrer Sehnsucht brachten, sondern für alle Zeiten pmu_008.014
eine Welt schufen, in der das gewöhnliche Leben veredelt und vergrößert pmu_008.015
erschien. Das aber macht das Wesen der dichterischen Formung aus, die pmu_008.016
sprachliche Form ist daneben nur sekundär, wenn auch gewiß nicht gleichgültig. pmu_008.017
Aber sie ist doch nur die äußere Form; die innere Form, die pmu_008.018
sich auch ihr sprachliches Gewand erst schafft, ist die Jdealisierung, pmu_008.019
die der Dichter mit seinem Stoffe vornimmt.
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6. Wie nun haben die großen lebensteigernden, idealisierenden Dichter pmu_008.021
ihren Stoff gebildet? Es ergibt sich da auf den ersten Blick, daß Sophokles pmu_008.022
ganz anders als Schiller, daß Dante anders als Dostojewski, daß pmu_008.023
Shakespeare anders als Racine idealisiert haben. Und doch ist wohl nur pmu_008.024
die Richtung der Steigerung verschieden, im letzten Grunde ist das pmu_008.025
Wesen der Jdealisierung bei allen das gleiche. Und zwar besteht es einmal pmu_008.026
in jenem oben beschriebenen Formgeben und anderseits in dem, pmu_008.027
was ich kurz als das Ethos der Persönlichkeit bezeichnen will, das pmu_008.028
das ganze Werk durchdringt und erst über die Richtung entscheidet, nach pmu_008.029
der hin idealisiert werden soll.
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Da der letzte Punkt der entscheidende ist, beginne ich mit ihm. Es ist pmu_008.031
eine nachweisbar falsche Lehre des Naturalismus, daß der Dichter „objektiv“ pmu_008.032
sein müsse, daß seine Persönlichkeit verschwinden müsse hinter seinem pmu_008.033
Werke; gerade das Gegenteil ist richtig, was die historische Erfahrung pmu_008.034
beweist. Die Welt hat immer diejenigen Dichtungen am höchsten pmu_008.035
gewertet, aus denen die stärkste Persönlichkeit sprach. Während der konsequente pmu_008.036
Naturalismus in dem Satze „Kunst ist Natur, gesehen durch ein pmu_008.037
Temperament“ nur die erste Hälfte betonte und die zweite am liebsten pmu_008.038
weggelassen hätte, legt der Jdealismus allen Akzent auf den zweiten Teil
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