unbezeichnenden Roheit in ein Uebermaaß der Bezeichnung, einerseits von Kraft, Energie, Tüchtigkeit, andererseits von Zierlichkeit, welche für diese Zeit die Anmuth vertre- ten mußte, übergehn. Die dieser Richtung angehörenden Bildwerke nennt man "im altgriechischen Style" ge- arbeitet.
192. Die Formen des Körpers sind an diesen Bild- werken übermäßig muskulös; Gelenke, Sehnen zu sehr hervorgehoben, und eben dadurch alle Umrisse zu hart 2und schneidend. Solche Härte wird in hohem Maaße von Kallon, schon weniger von Kanachos ausgesagt, aber auch dem Styl der Attischen Meister um Ol. 75 noch 3zu scharfe Muskelbezeichnung vorgeworfen. Indeß führte grade diese Strenge der Zeichnung zu der Naturwahrheit, welche an den Aeginetischen Statuen, in den meisten 4Stücken, so sehr bewundert wird. -- Mit dieser Kräftigkeit der Zeichnung verbinden sich gewöhnlich kurze und gedrun- gene Proportionen, obgleich auch ein übermäßiges in die Länge Ziehn der Figuren nicht selten, doch mehr in Mah- 5lereien als Sculpturen, gefunden wird. -- Die Bewe- gungen haben gewöhnlich etwas Schroffes, Eckiges, und auch bei großer Lebendigkeit eine gewisse Steifheit.
2. Duriora et Tuscanicis proxima Callon atque Hegesias, Quiutil. Instit. xii, 10. Canachi rigidiora quam ut imi- tentur veritatem Cicero Brut. 18, 70. Oia ta tes pa- laias ergasias esti Egesiou kai ton amphi Kritian ton Nesioten, apesphigmena (adstricta) kai neurode kai skle- ra kai akribos apotetamena tais grammais. Lukian praec. rhet. 9. Demetr. de elocut. §. 14. sagt, der ältere rhetorische Styl sei unperiodisch aber periexesmenos, wie die alten agalmata, deren tekhne sustole kai iskhnotes. Vgl. damit §. 96. N. 11. 14. 15. 19.
3. In den Aeginetischen Statuen verbindet sich mit einer Naturwahrheit, die in Erstaunen versetzt, manche Sonderbar- keit, wie das starke Angeben des Brustknorpels, die eigne Abthei- lung des musculus rectus, und die spitze Form auch starkgebog-
Hiſtoriſcher Theil.
unbezeichnenden Roheit in ein Uebermaaß der Bezeichnung, einerſeits von Kraft, Energie, Tuͤchtigkeit, andererſeits von Zierlichkeit, welche fuͤr dieſe Zeit die Anmuth vertre- ten mußte, uͤbergehn. Die dieſer Richtung angehoͤrenden Bildwerke nennt man „im altgriechiſchen Style“ ge- arbeitet.
192. Die Formen des Koͤrpers ſind an dieſen Bild- werken uͤbermaͤßig muskuloͤs; Gelenke, Sehnen zu ſehr hervorgehoben, und eben dadurch alle Umriſſe zu hart 2und ſchneidend. Solche Haͤrte wird in hohem Maaße von Kallon, ſchon weniger von Kanachos ausgeſagt, aber auch dem Styl der Attiſchen Meiſter um Ol. 75 noch 3zu ſcharfe Muskelbezeichnung vorgeworfen. Indeß fuͤhrte grade dieſe Strenge der Zeichnung zu der Naturwahrheit, welche an den Aeginetiſchen Statuen, in den meiſten 4Stuͤcken, ſo ſehr bewundert wird. — Mit dieſer Kraͤftigkeit der Zeichnung verbinden ſich gewoͤhnlich kurze und gedrun- gene Proportionen, obgleich auch ein uͤbermaͤßiges in die Laͤnge Ziehn der Figuren nicht ſelten, doch mehr in Mah- 5lereien als Sculpturen, gefunden wird. — Die Bewe- gungen haben gewoͤhnlich etwas Schroffes, Eckiges, und auch bei großer Lebendigkeit eine gewiſſe Steifheit.
2. Duriora et Tuscanicis proxima Callon atque Hegesias, Quiutil. Instit. xii, 10. Canachi rigidiora quam ut imi- tentur veritatem Cicero Brut. 18, 70. Οἷα τὰ τῆς πα- λαιᾶς ἐργασίας ἐστὶ Ἡγησίου καὶ τῶν ἀμφὶ Κριτίαν τὸν Νησιώτην, ἀπεσφιγμένα (adstricta) καὶ νευρώδη καὶ σκλη- ρὰ καὶ ἀκριβῶς ἀποτεταμένα ταῖς γραμμαῖς. Lukian praec. rhet. 9. Demetr. de elocut. §. 14. ſagt, der ältere rhetoriſche Styl ſei unperiodiſch aber περιεξεσμένος, wie die alten ἀγάλματα, deren τέχνη συστολὴ καὶ ἰσχνότης. Vgl. damit §. 96. N. 11. 14. 15. 19.
3. In den Aeginetiſchen Statuen verbindet ſich mit einer Naturwahrheit, die in Erſtaunen verſetzt, manche Sonderbar- keit, wie das ſtarke Angeben des Bruſtknorpels, die eigne Abthei- lung des musculus rectus, und die ſpitze Form auch ſtarkgebog-
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Hiſtoriſcher Theil.
unbezeichnenden Roheit in ein Uebermaaß der Bezeichnung,
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von Zierlichkeit, welche fuͤr dieſe Zeit die Anmuth vertre-
ten mußte, uͤbergehn. Die dieſer Richtung angehoͤrenden
Bildwerke nennt man „im altgriechiſchen Style“ ge-
arbeitet.
92. Die Formen des Koͤrpers ſind an dieſen Bild-
werken uͤbermaͤßig muskuloͤs; Gelenke, Sehnen zu ſehr
hervorgehoben, und eben dadurch alle Umriſſe zu hart
und ſchneidend. Solche Haͤrte wird in hohem Maaße
von Kallon, ſchon weniger von Kanachos ausgeſagt, aber
auch dem Styl der Attiſchen Meiſter um Ol. 75 noch
zu ſcharfe Muskelbezeichnung vorgeworfen. Indeß fuͤhrte
grade dieſe Strenge der Zeichnung zu der Naturwahrheit,
welche an den Aeginetiſchen Statuen, in den meiſten
Stuͤcken, ſo ſehr bewundert wird. — Mit dieſer Kraͤftigkeit
der Zeichnung verbinden ſich gewoͤhnlich kurze und gedrun-
gene Proportionen, obgleich auch ein uͤbermaͤßiges in die
Laͤnge Ziehn der Figuren nicht ſelten, doch mehr in Mah-
lereien als Sculpturen, gefunden wird. — Die Bewe-
gungen haben gewoͤhnlich etwas Schroffes, Eckiges, und
auch bei großer Lebendigkeit eine gewiſſe Steifheit.
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Quiutil. Instit. xii, 10. Canachi rigidiora quam ut imi-
tentur veritatem Cicero Brut. 18, 70. Οἷα τὰ τῆς πα-
λαιᾶς ἐργασίας ἐστὶ Ἡγησίου καὶ τῶν ἀμφὶ Κριτίαν τὸν
Νησιώτην, ἀπεσφιγμένα (adstricta) καὶ νευρώδη καὶ σκλη-
ρὰ καὶ ἀκριβῶς ἀποτεταμένα ταῖς γραμμαῖς. Lukian praec.
rhet. 9. Demetr. de elocut. §. 14. ſagt, der ältere rhetoriſche
Styl ſei unperiodiſch aber περιεξεσμένος, wie die alten ἀγάλματα,
deren τέχνη συστολὴ καὶ ἰσχνότης. Vgl. damit §. 96. N. 11.
14. 15. 19.
3. In den Aeginetiſchen Statuen verbindet ſich mit
einer Naturwahrheit, die in Erſtaunen verſetzt, manche Sonderbar-
keit, wie das ſtarke Angeben des Bruſtknorpels, die eigne Abthei-
lung des musculus rectus, und die ſpitze Form auch ſtarkgebog-
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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/88>, abgerufen am 22.11.2024.
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