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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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Systematischer Theil.
B. Der Bakchische Kreis.
1. Dionysos.

1383. Der Cultus des Dionysos hat mehr als die
bisher genannten den Charakter eines Naturdienstes und
zwar eines orgiastischen behalten. Es ist die das mensch-
liche Gemüth überwältigende, und aus der Ruhe eines
klaren Selbstbewußtseins herausreißende Natur (deren voll-
kommenstes Symbol der Wein ist), welche allen Diony-
2sischen Bildungen zum Grunde liegt. Der Kreis der
Dionysischen Gestalten, welche gleichsam einen eignen ab-
gesonderten Olymp bilden, stellt dies Naturleben mit sei-
nen Wirkungen auf den menschlichen Geist, auf verschied-
nen Stufen gefaßt, bald in edleren bald unedleren For-
men vor; im Dionysos selbst entfaltet sich die reinste
Blüthe verbunden mit einem afflatus, der die innre
3Ruhe nicht zerstört, sondern nur seeliger macht. Die
älteste Griechenwelt begnügte sich auch bei der Darstel-
4lung dieses Naturgottes mit einer phallischen Herme; und
grade Dionysosköpfe und bloße Masken abgesondert auf-
zustellen, blieb in der Griechischen Kunst immer Sitte.
5Daraus entwickelt sich die stattliche und majestätische Gestalt
des alten Dionysos mit der prächtigen Fülle der Haupt-
locken, welche durch die Mitra zusammengehalten werden,
und des sanftfließenden Baarthaars, den klaren und blü-
henden Zügen des Antlitzes, und dem orientalischen Reich-
6thum einer fast weibischen Bekleidung. Erst später
geht daraus der jugendliche, im Alter des Epheben oder
Mellepheben gefaßte Dionysos hervor, bei dem auch die
Körperformen, welche ohne ausgearbeitete Musculatur
weich ineinander fließen, die halbweibliche Natur des
Gottes ankündigen, und die Züge des Antlitzes ein ei-
genthümliches Gemisch einer seeligen Berauschung und einer
unbestimmten und dunkeln Sehnsucht zeigen, in wel-
chem die Bacchische Gefühlsstimmung in ihrer reinsten

Syſtematiſcher Theil.
B. Der Bakchiſche Kreis.
1. Dionyſos.

1383. Der Cultus des Dionyſos hat mehr als die
bisher genannten den Charakter eines Naturdienſtes und
zwar eines orgiaſtiſchen behalten. Es iſt die das menſch-
liche Gemuͤth uͤberwaͤltigende, und aus der Ruhe eines
klaren Selbſtbewußtſeins herausreißende Natur (deren voll-
kommenſtes Symbol der Wein iſt), welche allen Diony-
2ſiſchen Bildungen zum Grunde liegt. Der Kreis der
Dionyſiſchen Geſtalten, welche gleichſam einen eignen ab-
geſonderten Olymp bilden, ſtellt dies Naturleben mit ſei-
nen Wirkungen auf den menſchlichen Geiſt, auf verſchied-
nen Stufen gefaßt, bald in edleren bald unedleren For-
men vor; im Dionyſos ſelbſt entfaltet ſich die reinſte
Bluͤthe verbunden mit einem afflatus, der die innre
3Ruhe nicht zerſtoͤrt, ſondern nur ſeeliger macht. Die
aͤlteſte Griechenwelt begnuͤgte ſich auch bei der Darſtel-
4lung dieſes Naturgottes mit einer phalliſchen Herme; und
grade Dionyſoskoͤpfe und bloße Masken abgeſondert auf-
zuſtellen, blieb in der Griechiſchen Kunſt immer Sitte.
5Daraus entwickelt ſich die ſtattliche und majeſtaͤtiſche Geſtalt
des alten Dionyſos mit der praͤchtigen Fuͤlle der Haupt-
locken, welche durch die Mitra zuſammengehalten werden,
und des ſanftfließenden Baarthaars, den klaren und bluͤ-
henden Zuͤgen des Antlitzes, und dem orientaliſchen Reich-
6thum einer faſt weibiſchen Bekleidung. Erſt ſpaͤter
geht daraus der jugendliche, im Alter des Epheben oder
Mellepheben gefaßte Dionyſos hervor, bei dem auch die
Koͤrperformen, welche ohne ausgearbeitete Musculatur
weich ineinander fließen, die halbweibliche Natur des
Gottes ankuͤndigen, und die Zuͤge des Antlitzes ein ei-
genthuͤmliches Gemiſch einer ſeeligen Berauſchung und einer
unbeſtimmten und dunkeln Sehnſucht zeigen, in wel-
chem die Bacchiſche Gefuͤhlsſtimmung in ihrer reinſten

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[510/0532] Syſtematiſcher Theil. B. Der Bakchiſche Kreis. 1. Dionyſos. 383. Der Cultus des Dionyſos hat mehr als die bisher genannten den Charakter eines Naturdienſtes und zwar eines orgiaſtiſchen behalten. Es iſt die das menſch- liche Gemuͤth uͤberwaͤltigende, und aus der Ruhe eines klaren Selbſtbewußtſeins herausreißende Natur (deren voll- kommenſtes Symbol der Wein iſt), welche allen Diony- ſiſchen Bildungen zum Grunde liegt. Der Kreis der Dionyſiſchen Geſtalten, welche gleichſam einen eignen ab- geſonderten Olymp bilden, ſtellt dies Naturleben mit ſei- nen Wirkungen auf den menſchlichen Geiſt, auf verſchied- nen Stufen gefaßt, bald in edleren bald unedleren For- men vor; im Dionyſos ſelbſt entfaltet ſich die reinſte Bluͤthe verbunden mit einem afflatus, der die innre Ruhe nicht zerſtoͤrt, ſondern nur ſeeliger macht. Die aͤlteſte Griechenwelt begnuͤgte ſich auch bei der Darſtel- lung dieſes Naturgottes mit einer phalliſchen Herme; und grade Dionyſoskoͤpfe und bloße Masken abgeſondert auf- zuſtellen, blieb in der Griechiſchen Kunſt immer Sitte. Daraus entwickelt ſich die ſtattliche und majeſtaͤtiſche Geſtalt des alten Dionyſos mit der praͤchtigen Fuͤlle der Haupt- locken, welche durch die Mitra zuſammengehalten werden, und des ſanftfließenden Baarthaars, den klaren und bluͤ- henden Zuͤgen des Antlitzes, und dem orientaliſchen Reich- thum einer faſt weibiſchen Bekleidung. Erſt ſpaͤter geht daraus der jugendliche, im Alter des Epheben oder Mellepheben gefaßte Dionyſos hervor, bei dem auch die Koͤrperformen, welche ohne ausgearbeitete Musculatur weich ineinander fließen, die halbweibliche Natur des Gottes ankuͤndigen, und die Zuͤge des Antlitzes ein ei- genthuͤmliches Gemiſch einer ſeeligen Berauſchung und einer unbeſtimmten und dunkeln Sehnſucht zeigen, in wel- chem die Bacchiſche Gefuͤhlsſtimmung in ihrer reinſten 1 2 3 4 5 6

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/532>, abgerufen am 22.11.2024.