2. S. unten: Gegenstände. Gottheiten des Orts, der Zeit, sittlicher Eigenschaften.
3. S. oben §. 214, 2.
326. Wird dies, wie es die Natur des Factums for-1 dert, nicht als eine einzelne Aushülfe des Künstlers, son- dern als ein allgemeiner und durchgängiger Grundsatz der antiken Kunst gefaßt: so können wir schon daraus das Hauptprinzip der Griechischen Kunst und eigentliche Grundgesetz der künstlerischen Thätigkeit im Alterthum kennen lernen. Gewiß war dies nicht ein Wiedergeben2 und unmittelbares Nachahmen des äußerlich Erfahrenen, Geschauten, des sogenannten Realen; sondern ein Schaf- fen von innen heraus, ein Erfassen des geistigen Lebens, und Abdrücken desselben in der damit natürlich verbunde- nen Form. Natürlich kann auch dies nicht stattfinden3 ohne liebevolle Nachahmung des sinnlich Erschauten; ja eben nur der innigsten und feurigsten Auffassung dieser Form, des menschlichen Körpers, erscheint sie als der all- gemeine und erhabne Ausdruck eines Alles durchdringen- den Lebens. Aber das Ziel dieser Nachahmung war nicht das Wiedergeben der einzelnen in die Erfahrung getrete- nen Erscheinung, sondern der Ausdruck von innrer Le- benskraft und geistigem Wesen. Eben deswegen tragen4 die Bildungen der Griechischen Kunst von Anfang an den Charakter einer gewissen Allgemeinheit, und das eigent- liche Porträt tritt erst verhältnißmäßig spät ein.
4. Hierin ist der Orient ganz unter demselben Gesetz begriffen, wie das Griechische Alterthum, und die Kunst steht hier von indi- vidueller Nachahmung noch ferner, der Charakter der Formen ist ein noch allgemeinerer.
327. So wenig nun die Griechische Kunst in ihren1 besten und ächtesten Zeiten über den gegebnen Naturkör- per hinaus Formen ersinnen zu können glaubte: eben so wenig glaubte sie in ihrer Hauptrichtung, denn es gab
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II. Bildende Kunſt. Formen.
2. S. unten: Gegenſtände. Gottheiten des Orts, der Zeit, ſittlicher Eigenſchaften.
3. S. oben §. 214, 2.
326. Wird dies, wie es die Natur des Factums for-1 dert, nicht als eine einzelne Aushuͤlfe des Kuͤnſtlers, ſon- dern als ein allgemeiner und durchgaͤngiger Grundſatz der antiken Kunſt gefaßt: ſo koͤnnen wir ſchon daraus das Hauptprinzip der Griechiſchen Kunſt und eigentliche Grundgeſetz der kuͤnſtleriſchen Thaͤtigkeit im Alterthum kennen lernen. Gewiß war dies nicht ein Wiedergeben2 und unmittelbares Nachahmen des aͤußerlich Erfahrenen, Geſchauten, des ſogenannten Realen; ſondern ein Schaf- fen von innen heraus, ein Erfaſſen des geiſtigen Lebens, und Abdruͤcken deſſelben in der damit natuͤrlich verbunde- nen Form. Natuͤrlich kann auch dies nicht ſtattfinden3 ohne liebevolle Nachahmung des ſinnlich Erſchauten; ja eben nur der innigſten und feurigſten Auffaſſung dieſer Form, des menſchlichen Koͤrpers, erſcheint ſie als der all- gemeine und erhabne Ausdruck eines Alles durchdringen- den Lebens. Aber das Ziel dieſer Nachahmung war nicht das Wiedergeben der einzelnen in die Erfahrung getrete- nen Erſcheinung, ſondern der Ausdruck von innrer Le- benskraft und geiſtigem Weſen. Eben deswegen tragen4 die Bildungen der Griechiſchen Kunſt von Anfang an den Charakter einer gewiſſen Allgemeinheit, und das eigent- liche Portraͤt tritt erſt verhaͤltnißmaͤßig ſpaͤt ein.
4. Hierin iſt der Orient ganz unter demſelben Geſetz begriffen, wie das Griechiſche Alterthum, und die Kunſt ſteht hier von indi- vidueller Nachahmung noch ferner, der Charakter der Formen iſt ein noch allgemeinerer.
327. So wenig nun die Griechiſche Kunſt in ihren1 beſten und aͤchteſten Zeiten uͤber den gegebnen Naturkoͤr- per hinaus Formen erſinnen zu koͤnnen glaubte: eben ſo wenig glaubte ſie in ihrer Hauptrichtung, denn es gab
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II. Bildende Kunſt. Formen.
2. S. unten: Gegenſtände. Gottheiten des Orts, der Zeit,
ſittlicher Eigenſchaften.
3. S. oben §. 214, 2.
326. Wird dies, wie es die Natur des Factums for-
dert, nicht als eine einzelne Aushuͤlfe des Kuͤnſtlers, ſon-
dern als ein allgemeiner und durchgaͤngiger Grundſatz
der antiken Kunſt gefaßt: ſo koͤnnen wir ſchon daraus
das Hauptprinzip der Griechiſchen Kunſt und eigentliche
Grundgeſetz der kuͤnſtleriſchen Thaͤtigkeit im Alterthum
kennen lernen. Gewiß war dies nicht ein Wiedergeben
und unmittelbares Nachahmen des aͤußerlich Erfahrenen,
Geſchauten, des ſogenannten Realen; ſondern ein Schaf-
fen von innen heraus, ein Erfaſſen des geiſtigen Lebens,
und Abdruͤcken deſſelben in der damit natuͤrlich verbunde-
nen Form. Natuͤrlich kann auch dies nicht ſtattfinden
ohne liebevolle Nachahmung des ſinnlich Erſchauten; ja
eben nur der innigſten und feurigſten Auffaſſung dieſer
Form, des menſchlichen Koͤrpers, erſcheint ſie als der all-
gemeine und erhabne Ausdruck eines Alles durchdringen-
den Lebens. Aber das Ziel dieſer Nachahmung war nicht
das Wiedergeben der einzelnen in die Erfahrung getrete-
nen Erſcheinung, ſondern der Ausdruck von innrer Le-
benskraft und geiſtigem Weſen. Eben deswegen tragen
die Bildungen der Griechiſchen Kunſt von Anfang an den
Charakter einer gewiſſen Allgemeinheit, und das eigent-
liche Portraͤt tritt erſt verhaͤltnißmaͤßig ſpaͤt ein.
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wie das Griechiſche Alterthum, und die Kunſt ſteht hier von indi-
vidueller Nachahmung noch ferner, der Charakter der Formen iſt ein
noch allgemeinerer.
327. So wenig nun die Griechiſche Kunſt in ihren
beſten und aͤchteſten Zeiten uͤber den gegebnen Naturkoͤr-
per hinaus Formen erſinnen zu koͤnnen glaubte: eben ſo
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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/423>, abgerufen am 22.11.2024.
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