Die Musik wirkt nur dadurch, daß sie sich mathematischen Verhältnissen, die Plastik, daß sie sich den organischen Naturfor- men einverleibt; reißt sie sich von diesen los, so verliert sie den Boden, auf dem sie sich unserm Geiste annähern kann.
11. An sich aber ist diese Gesetzmäßigkeit unfähig ein inneres Leben auszudrücken, und also gar nicht darstellen- der Art, sondern nur Bedingung der Darstellung, Schranke der sich innerhalb hin und herbewegenden, die Ge- setzmäßigkeit modificirenden, im Ganzen aber bewähren- den Kunstformen.
Es wird hier das Verhältniß der harmonischen Gesetze zur Melodie, des Gesetzes des Gleichgewichts im Rhythmus zur Man- nigfaltigkeit der Rhythmen, der organischen Grundform zu den be- sondern Gestaltungen der Plastik beschrieben.
12. Während diese Gesetzmäßigkeit erste Forderung an die Kunstform überhaupt: ist die Schönheit ein näheres Prädikat der Kunstform in Bezug auf das Em- pfindungsleben. Schön nennen wir diejenigen Formen, welche die Seele auf eine ihrer Natur durchaus ange- messene, wohlthätige, wahrhaft gesunde Weise zu empfin- den veranlassen, gleichsam in Schwingungen setzen, die ihrer innersten Structur gemäß sind.
Obzwar die Theorie der Kunst durch eine solche Definition die weitere Frage nach der Natur des Schönen an die Aesthetik als Theil der Psychologie abgiebt: so sieht man doch auch aus dem Ge- gebenen, wie das Schöne sich vom sinnlich Gefälligen sondert; auch warum Begierde, individuelles Interesse von dem Genusse des Schö- nen ausgeschlossen sind. Auch ist deutlich, warum manches vom Verstand als höchst vollkommen Erkannte nie schön erscheinen wird. -- Das Innere eines lebendigen Körpers z. B. deswegen, weil es un- willkührlich die Vorstellung der Zerstörung in uns erweckt.
13. Da die Seele natürlich dieser Gesundheit des1 Empfindungslebens nachstrebt: so ist das Schöne aller- dings Prinzip der Kunst, ohne indeß jemals an sich Ge-
Zur Theorie der Kunſt.
Die Muſik wirkt nur dadurch, daß ſie ſich mathematiſchen Verhältniſſen, die Plaſtik, daß ſie ſich den organiſchen Naturfor- men einverleibt; reißt ſie ſich von dieſen los, ſo verliert ſie den Boden, auf dem ſie ſich unſerm Geiſte annähern kann.
11. An ſich aber iſt dieſe Geſetzmaͤßigkeit unfaͤhig ein inneres Leben auszudruͤcken, und alſo gar nicht darſtellen- der Art, ſondern nur Bedingung der Darſtellung, Schranke der ſich innerhalb hin und herbewegenden, die Ge- ſetzmaͤßigkeit modificirenden, im Ganzen aber bewaͤhren- den Kunſtformen.
Es wird hier das Verhältniß der harmoniſchen Geſetze zur Melodie, des Geſetzes des Gleichgewichts im Rhythmus zur Man- nigfaltigkeit der Rhythmen, der organiſchen Grundform zu den be- ſondern Geſtaltungen der Plaſtik beſchrieben.
12. Waͤhrend dieſe Geſetzmaͤßigkeit erſte Forderung an die Kunſtform uͤberhaupt: iſt die Schoͤnheit ein naͤheres Praͤdikat der Kunſtform in Bezug auf das Em- pfindungsleben. Schoͤn nennen wir diejenigen Formen, welche die Seele auf eine ihrer Natur durchaus ange- meſſene, wohlthaͤtige, wahrhaft geſunde Weiſe zu empfin- den veranlaſſen, gleichſam in Schwingungen ſetzen, die ihrer innerſten Structur gemaͤß ſind.
Obzwar die Theorie der Kunſt durch eine ſolche Definition die weitere Frage nach der Natur des Schönen an die Aeſthetik als Theil der Pſychologie abgiebt: ſo ſieht man doch auch aus dem Ge- gebenen, wie das Schöne ſich vom ſinnlich Gefälligen ſondert; auch warum Begierde, individuelles Intereſſe von dem Genuſſe des Schö- nen ausgeſchloſſen ſind. Auch iſt deutlich, warum manches vom Verſtand als höchſt vollkommen Erkannte nie ſchön erſcheinen wird. — Das Innere eines lebendigen Körpers z. B. deswegen, weil es un- willkührlich die Vorſtellung der Zerſtörung in uns erweckt.
13. Da die Seele natuͤrlich dieſer Geſundheit des1 Empfindungslebens nachſtrebt: ſo iſt das Schoͤne aller- dings Prinzip der Kunſt, ohne indeß jemals an ſich Ge-
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Zur Theorie der Kunſt.
Die Muſik wirkt nur dadurch, daß ſie ſich mathematiſchen
Verhältniſſen, die Plaſtik, daß ſie ſich den organiſchen Naturfor-
men einverleibt; reißt ſie ſich von dieſen los, ſo verliert ſie den
Boden, auf dem ſie ſich unſerm Geiſte annähern kann.
11. An ſich aber iſt dieſe Geſetzmaͤßigkeit unfaͤhig ein
inneres Leben auszudruͤcken, und alſo gar nicht darſtellen-
der Art, ſondern nur Bedingung der Darſtellung, Schranke
der ſich innerhalb hin und herbewegenden, die Ge-
ſetzmaͤßigkeit modificirenden, im Ganzen aber bewaͤhren-
den Kunſtformen.
Es wird hier das Verhältniß der harmoniſchen Geſetze zur
Melodie, des Geſetzes des Gleichgewichts im Rhythmus zur Man-
nigfaltigkeit der Rhythmen, der organiſchen Grundform zu den be-
ſondern Geſtaltungen der Plaſtik beſchrieben.
12. Waͤhrend dieſe Geſetzmaͤßigkeit erſte Forderung
an die Kunſtform uͤberhaupt: iſt die Schoͤnheit ein
naͤheres Praͤdikat der Kunſtform in Bezug auf das Em-
pfindungsleben. Schoͤn nennen wir diejenigen Formen,
welche die Seele auf eine ihrer Natur durchaus ange-
meſſene, wohlthaͤtige, wahrhaft geſunde Weiſe zu empfin-
den veranlaſſen, gleichſam in Schwingungen ſetzen, die
ihrer innerſten Structur gemaͤß ſind.
Obzwar die Theorie der Kunſt durch eine ſolche Definition die
weitere Frage nach der Natur des Schönen an die Aeſthetik als
Theil der Pſychologie abgiebt: ſo ſieht man doch auch aus dem Ge-
gebenen, wie das Schöne ſich vom ſinnlich Gefälligen ſondert; auch
warum Begierde, individuelles Intereſſe von dem Genuſſe des Schö-
nen ausgeſchloſſen ſind. Auch iſt deutlich, warum manches vom
Verſtand als höchſt vollkommen Erkannte nie ſchön erſcheinen wird. —
Das Innere eines lebendigen Körpers z. B. deswegen, weil es un-
willkührlich die Vorſtellung der Zerſtörung in uns erweckt.
13. Da die Seele natuͤrlich dieſer Geſundheit des
Empfindungslebens nachſtrebt: ſo iſt das Schoͤne aller-
dings Prinzip der Kunſt, ohne indeß jemals an ſich Ge-
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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/27>, abgerufen am 24.11.2024.
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