tischer Verstand das Orakel zu leiten fortfuhr. Daß eine Frau der Mund des Gottes werden mußte, hat erstens in der den Doriern eigenthümlichen Schätzung der Frauen, dann in der von den Alten öfter bemerk- ten Neigung des weiblichen Geschlechts zu ekstatischen Zuständen seinen Grund. Auch sonst sind mit Apollon- tempeln häufig Prophetinnen verbunden, wie schon in mythischer Zeit Manto bei dem Ismenischen und Kla- rischen, und Kassandra bei dem Thymbräischen Heilig- thume, mit denen die Sibyllen zunächst verwandt sind, in deren Sprüchen -- nach einzelnen Andeutungen zu schließen -- ein strenger Geist geweht zu haben scheint, der das Ueberwallen des freudigen Muthes durch An- kündigung der göttlichen Gerichte bändigte und be- schränkte. Sehr bezeichnend sagt der alte Herakleitos von Ephesos: mit rasendem Munde kündet die Sibylla freudelose, ungezierte und ungesalbte Reden, aber des Gottes voll 1. Derselbe sagt von der Weissagung zu Pytho: der Gott, daß das Orakel ist zu Delphen, sagt weder noch verbirgt er, sondern er zeigt an 2, wo- mit wenigstens der häufigen Vorstellung von einer ge- suchten Ambiguität dieser Orakel widersprochen wird.
Ueberhaupt aber mußte dieses Institut sehr an Würde des Charakters verlieren, als es sich herabließ, die verfänglichen Fragen, mit denen Krösos die Grie- chischen Orakel versuchte, auf Schleichwegen zu lösen, um der reichen Geschenke und Spenden willen, mit de- nen der Lydermonarch Tempel und Stadt bedachte. Ein Grieche hätte es in früherer Zeit nicht gewagt,
1 Bei Plut. Pyth. or. 6. p. 257. vgl. Schleiermacher Heraklit im Museum der Alterthumsw. S. 332.
2 bei Plut. 21. S. 282. S. 333. Schleierm. Einfachheit scheint auch Herod. 7, 111. an den Delphischen Orakeln einigermaßen zu rühmen, wie Philostr. V. Apoll. 6, 11.
22 *
tiſcher Verſtand das Orakel zu leiten fortfuhr. Daß eine Frau der Mund des Gottes werden mußte, hat erſtens in der den Doriern eigenthuͤmlichen Schaͤtzung der Frauen, dann in der von den Alten oͤfter bemerk- ten Neigung des weiblichen Geſchlechts zu ekſtatiſchen Zuſtaͤnden ſeinen Grund. Auch ſonſt ſind mit Apollon- tempeln haͤufig Prophetinnen verbunden, wie ſchon in mythiſcher Zeit Manto bei dem Ismeniſchen und Kla- riſchen, und Kaſſandra bei dem Thymbraͤiſchen Heilig- thume, mit denen die Sibyllen zunaͤchſt verwandt ſind, in deren Spruͤchen — nach einzelnen Andeutungen zu ſchließen — ein ſtrenger Geiſt geweht zu haben ſcheint, der das Ueberwallen des freudigen Muthes durch An- kuͤndigung der goͤttlichen Gerichte baͤndigte und be- ſchraͤnkte. Sehr bezeichnend ſagt der alte Herakleitos von Epheſos: mit raſendem Munde kuͤndet die Sibylla freudeloſe, ungezierte und ungeſalbte Reden, aber des Gottes voll 1. Derſelbe ſagt von der Weiſſagung zu Pytho: der Gott, daß das Orakel iſt zu Delphen, ſagt weder noch verbirgt er, ſondern er zeigt an 2, wo- mit wenigſtens der haͤufigen Vorſtellung von einer ge- ſuchten Ambiguitaͤt dieſer Orakel widerſprochen wird.
Ueberhaupt aber mußte dieſes Inſtitut ſehr an Wuͤrde des Charakters verlieren, als es ſich herabließ, die verfaͤnglichen Fragen, mit denen Kroͤſos die Grie- chiſchen Orakel verſuchte, auf Schleichwegen zu loͤſen, um der reichen Geſchenke und Spenden willen, mit de- nen der Lydermonarch Tempel und Stadt bedachte. Ein Grieche haͤtte es in fruͤherer Zeit nicht gewagt,
1 Bei Plut. Pyth. or. 6. p. 257. vgl. Schleiermacher Heraklit im Muſeum der Alterthumsw. S. 332.
2 bei Plut. 21. S. 282. S. 333. Schleierm. Einfachheit ſcheint auch Herod. 7, 111. an den Delphiſchen Orakeln einigermaßen zu ruͤhmen, wie Philoſtr. V. Apoll. 6, 11.
22 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0369"n="339"/>
tiſcher Verſtand das Orakel zu leiten fortfuhr. Daß<lb/>
eine Frau der Mund des Gottes werden mußte, hat<lb/>
erſtens in der den Doriern eigenthuͤmlichen Schaͤtzung<lb/>
der Frauen, dann in der von den Alten oͤfter bemerk-<lb/>
ten Neigung des weiblichen Geſchlechts zu ekſtatiſchen<lb/>
Zuſtaͤnden ſeinen Grund. Auch ſonſt ſind mit Apollon-<lb/>
tempeln haͤufig Prophetinnen verbunden, wie ſchon in<lb/>
mythiſcher Zeit Manto bei dem Ismeniſchen und Kla-<lb/>
riſchen, und Kaſſandra bei dem Thymbraͤiſchen Heilig-<lb/>
thume, mit denen die Sibyllen zunaͤchſt verwandt ſind,<lb/>
in deren Spruͤchen — nach einzelnen Andeutungen zu<lb/>ſchließen — ein ſtrenger Geiſt geweht zu haben ſcheint,<lb/>
der das Ueberwallen des freudigen Muthes durch An-<lb/>
kuͤndigung der goͤttlichen Gerichte baͤndigte und be-<lb/>ſchraͤnkte. Sehr bezeichnend ſagt der alte Herakleitos<lb/>
von Epheſos: mit raſendem Munde kuͤndet die Sibylla<lb/>
freudeloſe, ungezierte und ungeſalbte Reden, aber des<lb/>
Gottes voll <noteplace="foot"n="1">Bei Plut. <hirendition="#aq">Pyth. or. 6. p.</hi> 257. vgl. Schleiermacher Heraklit<lb/>
im Muſeum der Alterthumsw. S. 332.</note>. Derſelbe ſagt von der Weiſſagung zu<lb/>
Pytho: der Gott, daß das Orakel iſt zu Delphen,<lb/>ſagt weder noch verbirgt er, ſondern er zeigt an <noteplace="foot"n="2">bei Plut. 21. S.<lb/>
282. S. 333. Schleierm. Einfachheit ſcheint auch Herod. 7, 111.<lb/>
an den Delphiſchen Orakeln einigermaßen zu ruͤhmen, wie Philoſtr.<lb/><hirendition="#aq">V. Apoll.</hi> 6, 11.</note>, wo-<lb/>
mit wenigſtens der haͤufigen Vorſtellung von einer ge-<lb/>ſuchten Ambiguitaͤt dieſer Orakel widerſprochen wird.</p><lb/><p>Ueberhaupt aber mußte dieſes Inſtitut ſehr an<lb/>
Wuͤrde des Charakters verlieren, als es ſich herabließ,<lb/>
die verfaͤnglichen Fragen, mit denen Kroͤſos die Grie-<lb/>
chiſchen Orakel verſuchte, auf Schleichwegen zu loͤſen,<lb/>
um der reichen Geſchenke und Spenden willen, mit de-<lb/>
nen der Lydermonarch Tempel und Stadt bedachte.<lb/>
Ein Grieche haͤtte es in fruͤherer Zeit nicht gewagt,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">22 *</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[339/0369]
tiſcher Verſtand das Orakel zu leiten fortfuhr. Daß
eine Frau der Mund des Gottes werden mußte, hat
erſtens in der den Doriern eigenthuͤmlichen Schaͤtzung
der Frauen, dann in der von den Alten oͤfter bemerk-
ten Neigung des weiblichen Geſchlechts zu ekſtatiſchen
Zuſtaͤnden ſeinen Grund. Auch ſonſt ſind mit Apollon-
tempeln haͤufig Prophetinnen verbunden, wie ſchon in
mythiſcher Zeit Manto bei dem Ismeniſchen und Kla-
riſchen, und Kaſſandra bei dem Thymbraͤiſchen Heilig-
thume, mit denen die Sibyllen zunaͤchſt verwandt ſind,
in deren Spruͤchen — nach einzelnen Andeutungen zu
ſchließen — ein ſtrenger Geiſt geweht zu haben ſcheint,
der das Ueberwallen des freudigen Muthes durch An-
kuͤndigung der goͤttlichen Gerichte baͤndigte und be-
ſchraͤnkte. Sehr bezeichnend ſagt der alte Herakleitos
von Epheſos: mit raſendem Munde kuͤndet die Sibylla
freudeloſe, ungezierte und ungeſalbte Reden, aber des
Gottes voll 1. Derſelbe ſagt von der Weiſſagung zu
Pytho: der Gott, daß das Orakel iſt zu Delphen,
ſagt weder noch verbirgt er, ſondern er zeigt an 2, wo-
mit wenigſtens der haͤufigen Vorſtellung von einer ge-
ſuchten Ambiguitaͤt dieſer Orakel widerſprochen wird.
Ueberhaupt aber mußte dieſes Inſtitut ſehr an
Wuͤrde des Charakters verlieren, als es ſich herabließ,
die verfaͤnglichen Fragen, mit denen Kroͤſos die Grie-
chiſchen Orakel verſuchte, auf Schleichwegen zu loͤſen,
um der reichen Geſchenke und Spenden willen, mit de-
nen der Lydermonarch Tempel und Stadt bedachte.
Ein Grieche haͤtte es in fruͤherer Zeit nicht gewagt,
1 Bei Plut. Pyth. or. 6. p. 257. vgl. Schleiermacher Heraklit
im Muſeum der Alterthumsw. S. 332.
2 bei Plut. 21. S.
282. S. 333. Schleierm. Einfachheit ſcheint auch Herod. 7, 111.
an den Delphiſchen Orakeln einigermaßen zu ruͤhmen, wie Philoſtr.
V. Apoll. 6, 11.
22 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/369>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.