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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

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schmückendes Beiwort fand sicherlich in so alten Hym-
nen keine Stelle, auf Wachsthum des embryonischen
Menschen zielte: wie die alten Orphiker in ihren Do-
rischen Hymnen den Menschensamen mitos nannten,
und die Entstehung des Kindes dem Knüpfen eines
Netzes verglichen 1. -- Wenn aber Olen die Eileithyia
auch Mutter des Eros nannte: so trat seine Dichtung
einen Schritt über den eigentlichen Kreis des Apollon-
dienstes hinaus, und identificirte wahrscheinlich die
Aphrodite arkhaia, deren Altar Theseus auf Delos ge-
baut haben soll 2, mit jener Geburtsgöttin. Auf jeden
Fall erklärt die Verpflanzung dieses altattischen Cultus
auf die heilige Insel und der Connex, in welchen er
mit dem Delischen Dienste trat, die Erwähnung des
Eros in jenem alten Hymnus.

Neun Tage und neun Nächte rang Leto in hoff-
nungslosen Geburtswehen; es umstanden sie hülfreich
die Titaniden Dione, Rhea, Themis und Amphitrite,
die endlich auch nach dem Homeridenhymnus die Eilei-
thyia durch das Versprechen einer neunellenlangen,
an goldne Faden gereihten Halsschnur herbeiziehen.
Da fassen Leto die Wehen, sie wirft die Arme um die
Palme und geneset des göttlichen Sohnes. -- So
scherzhaft der Dichter das Motiv der Hülfe behandelt,
die Eileithyia leistet: so sind doch die davon versuch-
ten "kosmischen" Erklärungen allzu künstlich und ge-
schraubt. Wahrscheinlich weihten in Delos schwangere
Frauen der Eileithyia Halsbänder (die für diesen Zu-
stand einige Bedeutung hatten); wie die Wöchnerinnen
in Athen ihre Bilder (so scheint es nach Pausanias)
von oben bis unten mit Binden umwickelten.


1 S. Valckenaer de Aristobulo p. 76. und Aristot. de
gener. anim.
2, 1. aus Orphikern: omoios to zoon te tou diktuou
ploke gignetai.
2 Spanh. zu Kall, auf Delos 308.

ſchmuͤckendes Beiwort fand ſicherlich in ſo alten Hym-
nen keine Stelle, auf Wachsthum des embryoniſchen
Menſchen zielte: wie die alten Orphiker in ihren Do-
riſchen Hymnen den Menſchenſamen μίτος nannten,
und die Entſtehung des Kindes dem Knuͤpfen eines
Netzes verglichen 1. — Wenn aber Olen die Eileithyia
auch Mutter des Eros nannte: ſo trat ſeine Dichtung
einen Schritt uͤber den eigentlichen Kreis des Apollon-
dienſtes hinaus, und identificirte wahrſcheinlich die
Ἀφϱοδίτη ἀρχαία, deren Altar Theſeus auf Delos ge-
baut haben ſoll 2, mit jener Geburtsgoͤttin. Auf jeden
Fall erklaͤrt die Verpflanzung dieſes altattiſchen Cultus
auf die heilige Inſel und der Connex, in welchen er
mit dem Deliſchen Dienſte trat, die Erwaͤhnung des
Eros in jenem alten Hymnus.

Neun Tage und neun Naͤchte rang Leto in hoff-
nungsloſen Geburtswehen; es umſtanden ſie huͤlfreich
die Titaniden Dione, Rhea, Themis und Amphitrite,
die endlich auch nach dem Homeridenhymnus die Eilei-
thyia durch das Verſprechen einer neunellenlangen,
an goldne Faden gereihten Halsſchnur herbeiziehen.
Da faſſen Leto die Wehen, ſie wirft die Arme um die
Palme und geneſet des goͤttlichen Sohnes. — So
ſcherzhaft der Dichter das Motiv der Huͤlfe behandelt,
die Eileithyia leiſtet: ſo ſind doch die davon verſuch-
ten “kosmiſchen” Erklaͤrungen allzu kuͤnſtlich und ge-
ſchraubt. Wahrſcheinlich weihten in Delos ſchwangere
Frauen der Eileithyia Halsbaͤnder (die fuͤr dieſen Zu-
ſtand einige Bedeutung hatten); wie die Woͤchnerinnen
in Athen ihre Bilder (ſo ſcheint es nach Pauſanias)
von oben bis unten mit Binden umwickelten.


1 S. Valckenaer de Aristobulo p. 76. und Ariſtot. de
gener. anim.
2, 1. aus Orphikern: ὁμοίως τὸ ζῶον τῆ τοῦ δικτύου
πλοκῆ γίγνεται.
2 Spanh. zu Kall, auf Delos 308.
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[313/0343] ſchmuͤckendes Beiwort fand ſicherlich in ſo alten Hym- nen keine Stelle, auf Wachsthum des embryoniſchen Menſchen zielte: wie die alten Orphiker in ihren Do- riſchen Hymnen den Menſchenſamen μίτος nannten, und die Entſtehung des Kindes dem Knuͤpfen eines Netzes verglichen 1. — Wenn aber Olen die Eileithyia auch Mutter des Eros nannte: ſo trat ſeine Dichtung einen Schritt uͤber den eigentlichen Kreis des Apollon- dienſtes hinaus, und identificirte wahrſcheinlich die Ἀφϱοδίτη ἀρχαία, deren Altar Theſeus auf Delos ge- baut haben ſoll 2, mit jener Geburtsgoͤttin. Auf jeden Fall erklaͤrt die Verpflanzung dieſes altattiſchen Cultus auf die heilige Inſel und der Connex, in welchen er mit dem Deliſchen Dienſte trat, die Erwaͤhnung des Eros in jenem alten Hymnus. Neun Tage und neun Naͤchte rang Leto in hoff- nungsloſen Geburtswehen; es umſtanden ſie huͤlfreich die Titaniden Dione, Rhea, Themis und Amphitrite, die endlich auch nach dem Homeridenhymnus die Eilei- thyia durch das Verſprechen einer neunellenlangen, an goldne Faden gereihten Halsſchnur herbeiziehen. Da faſſen Leto die Wehen, ſie wirft die Arme um die Palme und geneſet des goͤttlichen Sohnes. — So ſcherzhaft der Dichter das Motiv der Huͤlfe behandelt, die Eileithyia leiſtet: ſo ſind doch die davon verſuch- ten “kosmiſchen” Erklaͤrungen allzu kuͤnſtlich und ge- ſchraubt. Wahrſcheinlich weihten in Delos ſchwangere Frauen der Eileithyia Halsbaͤnder (die fuͤr dieſen Zu- ſtand einige Bedeutung hatten); wie die Woͤchnerinnen in Athen ihre Bilder (ſo ſcheint es nach Pauſanias) von oben bis unten mit Binden umwickelten. 1 S. Valckenaer de Aristobulo p. 76. und Ariſtot. de gener. anim. 2, 1. aus Orphikern: ὁμοίως τὸ ζῶον τῆ τοῦ δικτύου πλοκῆ γίγνεται. 2 Spanh. zu Kall, auf Delos 308.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/343>, abgerufen am 01.09.2024.