Und so war Apollon wohl in keiner Rücksicht eine Naturgottheit, in welcher die schöpferische Kraft der Natur als Wesen der Gottheit dargestellt wird. Alle charakteristischen Kennzeichen des Naturdienstes lassen sich bei ihm nicht nachweisen. Weit entfernt als zeu- gender und producirender Gott zu erscheinen 1, bleibt er unvermählt und Jüngling, denn daß die dichterischen Liebschaften mit der Nymphe des Lorbeerbaums und seine poetischen und prophetischen Söhne die Cultus- idee nichts angehen, ist leicht einzusehn 2. In den Gebräuchen und Symbolen desselben ist dagegen keine Spur von jener Verehrung der zeugenden Kräfte, wie sie auf eine naive Weise im altarkadischen Cultus des Hermes, den Argivischen Mythen von Hera, den At- tischen von Hephästos und Athena hervortritt. Noch weiter bleibt von ihm der glühende und sich selbst ver- zehrende Orgiasmus, in welchem cholerische Völker von einer Naturansicht bewegt, die den Naturgott bald leidend und zerfleischt, bald siegend und strahlend er- blickte, in taumelnder Lust und ausgelassenem Toben den Jubel auszusprechen und die Wehmuth zu ersticken strebten: welche Gestalt religiöser Empfindung für Griechenland die Thrakische Verehrung des Dionysos darstellt. Obgleich diese am Helikon und Parnaß ganz in der Nähe des Pythischen Heiligthums blühte, und
6., wo Ap. Helios heißt, ist auch erst aus Alexandrin. Zeit; ganz spät der seltsame Hymnus, Brunk Anal. 2. p. 518. Auch sind die Münzen, wo Ap. Radien um das Haupt hat, so viel ich finde, alle erst aus der Kaiserzeit.
1 Der Delische Ap. Ienetor hieß wohl so in bestimmtem uns dunkelen Bezuge, wie der patroos, den die Orphiker bei Macr. 1, 17. auch progenitor im Allgemeinen deuteten.
2 Merk- würdig ist Sophokles Ausdruck, Oedip. Tyr. 1103., e tis thugater Aoxiou.
7.
Und ſo war Apollon wohl in keiner Ruͤckſicht eine Naturgottheit, in welcher die ſchoͤpferiſche Kraft der Natur als Weſen der Gottheit dargeſtellt wird. Alle charakteriſtiſchen Kennzeichen des Naturdienſtes laſſen ſich bei ihm nicht nachweiſen. Weit entfernt als zeu- gender und producirender Gott zu erſcheinen 1, bleibt er unvermaͤhlt und Juͤngling, denn daß die dichteriſchen Liebſchaften mit der Nymphe des Lorbeerbaums und ſeine poetiſchen und prophetiſchen Soͤhne die Cultus- idee nichts angehen, iſt leicht einzuſehn 2. In den Gebraͤuchen und Symbolen deſſelben iſt dagegen keine Spur von jener Verehrung der zeugenden Kraͤfte, wie ſie auf eine naive Weiſe im altarkadiſchen Cultus des Hermes, den Argiviſchen Mythen von Hera, den At- tiſchen von Hephaͤſtos und Athena hervortritt. Noch weiter bleibt von ihm der gluͤhende und ſich ſelbſt ver- zehrende Orgiasmus, in welchem choleriſche Voͤlker von einer Naturanſicht bewegt, die den Naturgott bald leidend und zerfleiſcht, bald ſiegend und ſtrahlend er- blickte, in taumelnder Luſt und ausgelaſſenem Toben den Jubel auszuſprechen und die Wehmuth zu erſticken ſtrebten: welche Geſtalt religioͤſer Empfindung fuͤr Griechenland die Thrakiſche Verehrung des Dionyſos darſtellt. Obgleich dieſe am Helikon und Parnaß ganz in der Naͤhe des Pythiſchen Heiligthums bluͤhte, und
6., wo Ap. Helios heißt, iſt auch erſt aus Alexandrin. Zeit; ganz ſpaͤt der ſeltſame Hymnus, Brunk Anal. 2. p. 518. Auch ſind die Muͤnzen, wo Ap. Radien um das Haupt hat, ſo viel ich finde, alle erſt aus der Kaiſerzeit.
1 Der Deliſche Ap. Ι̛ενέτωϱ hieß wohl ſo in beſtimmtem uns dunkelen Bezuge, wie der πατϱῷος, den die Orphiker bei Macr. 1, 17. auch progenitor im Allgemeinen deuteten.
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Und ſo war Apollon wohl in keiner Ruͤckſicht eine
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Natur als Weſen der Gottheit dargeſtellt wird. Alle
charakteriſtiſchen Kennzeichen des Naturdienſtes laſſen
ſich bei ihm nicht nachweiſen. Weit entfernt als zeu-
gender und producirender Gott zu erſcheinen 1, bleibt
er unvermaͤhlt und Juͤngling, denn daß die dichteriſchen
Liebſchaften mit der Nymphe des Lorbeerbaums und
ſeine poetiſchen und prophetiſchen Soͤhne die Cultus-
idee nichts angehen, iſt leicht einzuſehn 2. In den
Gebraͤuchen und Symbolen deſſelben iſt dagegen keine
Spur von jener Verehrung der zeugenden Kraͤfte, wie
ſie auf eine naive Weiſe im altarkadiſchen Cultus des
Hermes, den Argiviſchen Mythen von Hera, den At-
tiſchen von Hephaͤſtos und Athena hervortritt. Noch
weiter bleibt von ihm der gluͤhende und ſich ſelbſt ver-
zehrende Orgiasmus, in welchem choleriſche Voͤlker von
einer Naturanſicht bewegt, die den Naturgott bald
leidend und zerfleiſcht, bald ſiegend und ſtrahlend er-
blickte, in taumelnder Luſt und ausgelaſſenem Toben
den Jubel auszuſprechen und die Wehmuth zu erſticken
ſtrebten: welche Geſtalt religioͤſer Empfindung fuͤr
Griechenland die Thrakiſche Verehrung des Dionyſos
darſtellt. Obgleich dieſe am Helikon und Parnaß ganz
in der Naͤhe des Pythiſchen Heiligthums bluͤhte, und
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1 Der Deliſche Ap. Ι̛ενέτωϱ hieß wohl ſo in beſtimmtem
uns dunkelen Bezuge, wie der πατϱῷος, den die Orphiker bei
Macr. 1, 17. auch progenitor im Allgemeinen deuteten.
2 Merk-
wuͤrdig iſt Sophokles Ausdruck, Oedip. Tyr. 1103., ἤ τις ϑυγάτηϱ
Αοξίου.
5 6., wo Ap. Helios heißt, iſt auch erſt aus Alexandrin. Zeit; ganz
ſpaͤt der ſeltſame Hymnus, Brunk Anal. 2. p. 518. Auch
ſind die Muͤnzen, wo Ap. Radien um das Haupt hat, ſo viel ich
finde, alle erſt aus der Kaiſerzeit.
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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/320>, abgerufen am 16.02.2025.
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