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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

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herging1. Also auf der heiligen Straße des Kreti-
schen Cultus lag der Kreter erschlagen; den verletzten
Gottesfrieden zn ahnden, kam Minos, und darum
muß Athen nach Knosos Tribut senden. Von welcher
Art aber dieser Tribut gewesen, erkennen wir aus
einer von Aristoteles2 aufbewahrten Sage, wonach
die Knaben, welche die Athener nach Kreta geschickt
hatten, hier als Frohnknechte lebten, und als die Kre-
ter, ein altes Gelübde zu lösen, einen Zehnten von
Menschen nach Delphi sandten, die Nachkommen jener
mit ihnen hinzogen, und hernach von da weiter ge-
schickt wurden. Es scheint hienach, daß die Athener
genöthigt waren, heilige Knechte an den Haupttempel
zu Knosos, den des Apollon, zu senden. Darum wa-
ren die Sendungen auch achtjährig (di ennea eton)3,
nämlich zu jeder Ennaeteris der Kretisch-Delphischen
Feste; darum bestanden sie aus sieben Jünglingen und
Mädchen, weil diese Zahl dem Gotte besonders heilig war.
-- Jeder weiß, wie sehr die Athener, zuerst vermuth-
lich in der Volkssage, dann die Dichter diesen Mythen-
kreis entstellt, wie gehässig sie ihn verdreht, und ganz
Fremdartiges eingemischt haben, so daß man sich jetzt
die Aufgabe zu hoch stellen würde, wenn man Alles
bis aufs Einzelne zerlegen wollte. -- Ursprünglich
aber, sagen wir mit voller Gewißheit, hatte die Fahrt
des Theseus nach Kreta keine andere Bedeutung, als
die damit verbundenen Landungen in Naxos und De-
los: eine Anknüpfung des Kultus. Denn auch die
Landung in Naxos bezieht sich eigentlich auf Uebertra-

1 Eine Spur der richtigen Sage ist bei Diod. 4, 60. vgl.
Serv. zur Aen. 6, 14. Die Leichenspiele des Laios haben erst die
Dichter der Reise als Zweck untergeschoben.
2 politeia Bot-
tiaion bei Plut. Thes. 16. Vgl. Qu. Gr. 35. Konon 25.
3 Plut.
Th. 15. Diod. 4, 61. Ovid. 8, 171.

herging1. Alſo auf der heiligen Straße des Kreti-
ſchen Cultus lag der Kreter erſchlagen; den verletzten
Gottesfrieden zn ahnden, kam Minos, und darum
muß Athen nach Knoſos Tribut ſenden. Von welcher
Art aber dieſer Tribut geweſen, erkennen wir aus
einer von Ariſtoteles2 aufbewahrten Sage, wonach
die Knaben, welche die Athener nach Kreta geſchickt
hatten, hier als Frohnknechte lebten, und als die Kre-
ter, ein altes Geluͤbde zu loͤſen, einen Zehnten von
Menſchen nach Delphi ſandten, die Nachkommen jener
mit ihnen hinzogen, und hernach von da weiter ge-
ſchickt wurden. Es ſcheint hienach, daß die Athener
genoͤthigt waren, heilige Knechte an den Haupttempel
zu Knoſos, den des Apollon, zu ſenden. Darum wa-
ren die Sendungen auch achtjaͤhrig (δι̛ ἐννέα ἐτῶν)3,
naͤmlich zu jeder Ennaeteris der Kretiſch-Delphiſchen
Feſte; darum beſtanden ſie aus ſieben Juͤnglingen und
Maͤdchen, weil dieſe Zahl dem Gotte beſonders heilig war.
— Jeder weiß, wie ſehr die Athener, zuerſt vermuth-
lich in der Volksſage, dann die Dichter dieſen Mythen-
kreis entſtellt, wie gehaͤſſig ſie ihn verdreht, und ganz
Fremdartiges eingemiſcht haben, ſo daß man ſich jetzt
die Aufgabe zu hoch ſtellen wuͤrde, wenn man Alles
bis aufs Einzelne zerlegen wollte. — Urſpruͤnglich
aber, ſagen wir mit voller Gewißheit, hatte die Fahrt
des Theſeus nach Kreta keine andere Bedeutung, als
die damit verbundenen Landungen in Naxos und De-
los: eine Anknuͤpfung des Kultus. Denn auch die
Landung in Naxos bezieht ſich eigentlich auf Uebertra-

1 Eine Spur der richtigen Sage iſt bei Diod. 4, 60. vgl.
Serv. zur Aen. 6, 14. Die Leichenſpiele des Laïos haben erſt die
Dichter der Reiſe als Zweck untergeſchoben.
2 πολιτεία Βοτ-
τιαίων bei Plut. Theſ. 16. Vgl. Qu. Gr. 35. Konon 25.
3 Plut.
Th. 15. Diod. 4, 61. Ovid. 8, 171.
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[242/0272] herging 1. Alſo auf der heiligen Straße des Kreti- ſchen Cultus lag der Kreter erſchlagen; den verletzten Gottesfrieden zn ahnden, kam Minos, und darum muß Athen nach Knoſos Tribut ſenden. Von welcher Art aber dieſer Tribut geweſen, erkennen wir aus einer von Ariſtoteles 2 aufbewahrten Sage, wonach die Knaben, welche die Athener nach Kreta geſchickt hatten, hier als Frohnknechte lebten, und als die Kre- ter, ein altes Geluͤbde zu loͤſen, einen Zehnten von Menſchen nach Delphi ſandten, die Nachkommen jener mit ihnen hinzogen, und hernach von da weiter ge- ſchickt wurden. Es ſcheint hienach, daß die Athener genoͤthigt waren, heilige Knechte an den Haupttempel zu Knoſos, den des Apollon, zu ſenden. Darum wa- ren die Sendungen auch achtjaͤhrig (δι̛ ἐννέα ἐτῶν) 3, naͤmlich zu jeder Ennaeteris der Kretiſch-Delphiſchen Feſte; darum beſtanden ſie aus ſieben Juͤnglingen und Maͤdchen, weil dieſe Zahl dem Gotte beſonders heilig war. — Jeder weiß, wie ſehr die Athener, zuerſt vermuth- lich in der Volksſage, dann die Dichter dieſen Mythen- kreis entſtellt, wie gehaͤſſig ſie ihn verdreht, und ganz Fremdartiges eingemiſcht haben, ſo daß man ſich jetzt die Aufgabe zu hoch ſtellen wuͤrde, wenn man Alles bis aufs Einzelne zerlegen wollte. — Urſpruͤnglich aber, ſagen wir mit voller Gewißheit, hatte die Fahrt des Theſeus nach Kreta keine andere Bedeutung, als die damit verbundenen Landungen in Naxos und De- los: eine Anknuͤpfung des Kultus. Denn auch die Landung in Naxos bezieht ſich eigentlich auf Uebertra- 1 Eine Spur der richtigen Sage iſt bei Diod. 4, 60. vgl. Serv. zur Aen. 6, 14. Die Leichenſpiele des Laïos haben erſt die Dichter der Reiſe als Zweck untergeſchoben. 2 πολιτεία Βοτ- τιαίων bei Plut. Theſ. 16. Vgl. Qu. Gr. 35. Konon 25. 3 Plut. Th. 15. Diod. 4, 61. Ovid. 8, 171.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/272>, abgerufen am 24.11.2024.