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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

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die Sacra der Kephaliden zum Theil auch aus Sühn-
gebräuchen bestanden, die den Attischen Thargelien
ähnlich oder damit identisch waren. Denn wie man
an diesem Feste Verbrecher als Opfer bekränzt auf ei-
nen Felsen führte und davon herabstieß: so that man
dasselbe zu bestimmten Zeiten auf Leukatas 1. Hier er-
leichterte man dem Herabgestürzten den Fall, indem
man Federn und ganze Vögel ihm unterband, unten
wurde er aufgefangen und alsdann weit hinweggeführt,
um alle Schuld mit sich zu nehmen. Zuerst soll Ke-
phalos den Sprung selbst gemacht haben, ganz der
ächten Religionssage gemäß. Mit dem Blute der ge-
tödteten Prokris befleckt und flüchtig, bietet er sich dem
erzürnten Familiengotte als das erste Opfer dar 2.

Später erhielt dieser Sprung freilich eine ganz
andere Anwendung und Deutung. Gemüther, welche
die Liebe aufrieb, hofften von der Lebensgefahr und
dem Seebade stärkende Kühlung; wie Sappho und die
Kalyke und Harpalyke des Stesichoros 3. Diese eigne
Anwendung des alten Gebrauches gab nun rückwärts
auch dem daran hängenden Mythus einen romanhafte-
ren Anstrich. Auch Kephalos und Prokris wurden nun
von Liebe und Eifersucht gequält. Daß die Fabel noch
verwickelter wurde, bewirkte ihre Aufnahme in den
Kyprischen Sagenkreis (was vermuthlich von den Atti-
schen Salaminiern ausging, wo vielleicht erst die Rolle
der Eos hinzukam) 4. Ohne Alles auflösen zu wollen,

1 kat' eniauton Str. 10, 452.
2 Apollod. 3, 15,
1. Nach dem alten Charon von Lampsakos bei Plut. virt. mul.
p.
289. machte Phobos von Phokäa zuerst den Sprung.
3 bei
Athen. 14. S. 619. Stesich. p. 36. Suchf. -- Hardion sur le sault
de Leucade. Mem. de l'Ac. d. I. 7. p.
245.
4 Indessen
wurde auch Eosphoros vielleicht in Thorikos verehrt. Konon 7.
Zuerst kommt Eos dabei auf ziemlich alten Vasengemälden vor.
(Tischbein 4, 12. Millin 2. pl. 34. Millingen Div. pl. 14.

die Sacra der Kephaliden zum Theil auch aus Suͤhn-
gebraͤuchen beſtanden, die den Attiſchen Thargelien
aͤhnlich oder damit identiſch waren. Denn wie man
an dieſem Feſte Verbrecher als Opfer bekraͤnzt auf ei-
nen Felſen fuͤhrte und davon herabſtieß: ſo that man
daſſelbe zu beſtimmten Zeiten auf Leukatas 1. Hier er-
leichterte man dem Herabgeſtuͤrzten den Fall, indem
man Federn und ganze Voͤgel ihm unterband, unten
wurde er aufgefangen und alsdann weit hinweggefuͤhrt,
um alle Schuld mit ſich zu nehmen. Zuerſt ſoll Ke-
phalos den Sprung ſelbſt gemacht haben, ganz der
aͤchten Religionsſage gemaͤß. Mit dem Blute der ge-
toͤdteten Prokris befleckt und fluͤchtig, bietet er ſich dem
erzuͤrnten Familiengotte als das erſte Opfer dar 2.

Spaͤter erhielt dieſer Sprung freilich eine ganz
andere Anwendung und Deutung. Gemuͤther, welche
die Liebe aufrieb, hofften von der Lebensgefahr und
dem Seebade ſtaͤrkende Kuͤhlung; wie Sappho und die
Kalyke und Harpalyke des Steſichoros 3. Dieſe eigne
Anwendung des alten Gebrauches gab nun ruͤckwaͤrts
auch dem daran haͤngenden Mythus einen romanhafte-
ren Anſtrich. Auch Kephalos und Prokris wurden nun
von Liebe und Eiferſucht gequaͤlt. Daß die Fabel noch
verwickelter wurde, bewirkte ihre Aufnahme in den
Kypriſchen Sagenkreis (was vermuthlich von den Atti-
ſchen Salaminiern ausging, wo vielleicht erſt die Rolle
der Eos hinzukam) 4. Ohne Alles aufloͤſen zu wollen,

1 κατ᾽ ἐνιαυτὸν Str. 10, 452.
2 Apollod. 3, 15,
1. Nach dem alten Charon von Lampſakos bei Plut. virt. mul.
p.
289. machte Phobos von Phokaͤa zuerſt den Sprung.
3 bei
Athen. 14. S. 619. Steſich. p. 36. Suchf. — Hardion sur le sault
de Leucade. Mem. de l’Ac. d. I. 7. p.
245.
4 Indeſſen
wurde auch Eosphoros vielleicht in Thorikos verehrt. Konon 7.
Zuerſt kommt Eos dabei auf ziemlich alten Vaſengemaͤlden vor.
(Tiſchbein 4, 12. Millin 2. pl. 34. Millingen Div. pl. 14.
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[232/0262] die Sacra der Kephaliden zum Theil auch aus Suͤhn- gebraͤuchen beſtanden, die den Attiſchen Thargelien aͤhnlich oder damit identiſch waren. Denn wie man an dieſem Feſte Verbrecher als Opfer bekraͤnzt auf ei- nen Felſen fuͤhrte und davon herabſtieß: ſo that man daſſelbe zu beſtimmten Zeiten auf Leukatas 1. Hier er- leichterte man dem Herabgeſtuͤrzten den Fall, indem man Federn und ganze Voͤgel ihm unterband, unten wurde er aufgefangen und alsdann weit hinweggefuͤhrt, um alle Schuld mit ſich zu nehmen. Zuerſt ſoll Ke- phalos den Sprung ſelbſt gemacht haben, ganz der aͤchten Religionsſage gemaͤß. Mit dem Blute der ge- toͤdteten Prokris befleckt und fluͤchtig, bietet er ſich dem erzuͤrnten Familiengotte als das erſte Opfer dar 2. Spaͤter erhielt dieſer Sprung freilich eine ganz andere Anwendung und Deutung. Gemuͤther, welche die Liebe aufrieb, hofften von der Lebensgefahr und dem Seebade ſtaͤrkende Kuͤhlung; wie Sappho und die Kalyke und Harpalyke des Steſichoros 3. Dieſe eigne Anwendung des alten Gebrauches gab nun ruͤckwaͤrts auch dem daran haͤngenden Mythus einen romanhafte- ren Anſtrich. Auch Kephalos und Prokris wurden nun von Liebe und Eiferſucht gequaͤlt. Daß die Fabel noch verwickelter wurde, bewirkte ihre Aufnahme in den Kypriſchen Sagenkreis (was vermuthlich von den Atti- ſchen Salaminiern ausging, wo vielleicht erſt die Rolle der Eos hinzukam) 4. Ohne Alles aufloͤſen zu wollen, 1 κατ᾽ ἐνιαυτὸν Str. 10, 452. 2 Apollod. 3, 15, 1. Nach dem alten Charon von Lampſakos bei Plut. virt. mul. p. 289. machte Phobos von Phokaͤa zuerſt den Sprung. 3 bei Athen. 14. S. 619. Steſich. p. 36. Suchf. — Hardion sur le sault de Leucade. Mem. de l’Ac. d. I. 7. p. 245. 4 Indeſſen wurde auch Eosphoros vielleicht in Thorikos verehrt. Konon 7. Zuerſt kommt Eos dabei auf ziemlich alten Vaſengemaͤlden vor. (Tiſchbein 4, 12. Millin 2. pl. 34. Millingen Div. pl. 14.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/262>, abgerufen am 24.11.2024.