die alterthümliche Einfachheit und Naivetät, die der Reflexion unbedürftige Sicherheit und Nothwendigkeit des Thuns, welche alle ächten Ueberlieferungen aus jener Zeit darstellen, in Ephoros, Hermippos 1 und ihrer Nachfolger Darstellungsweise. Diese hatten die Tendenz, das Andenken des Alterthums möglichst der Zeitgeschichte zu assimiliren, und das Bestreben, jede Thatsache aus irgend einer einzelnen Ueberlegung, aus einem Räsonnement, wie es ihrer Zeit gemäß war, hervorgehen zu lassen; sie haben wahrhaft schonungs- los den edlen Rost der alten Tradition abgerieben, und, die bewegenden Grundideen jener Zeit verkennend, die erhaltenen Thatsachen in einen modern-pragmatischen Zusammenhang hineingezwungen. Es ist nicht zu sa- gen, mit wie unglücklichem Eifer auch Plutarch dem altem Gesetzgeber überall, wo er eben nur den politi- schen Sinn seines Stammes und Volkes aussprach, besondere, meist ungenügende, oft alberne Absichten und Pläne unterlegt.
5.
Wenn man nach solchen Grundsätzen Lykurgs Geschichte prüft, so wird man finden, daß eigentlich über ihn, als Einzelperson, so gut wie gar keine Nachrichten existiren. Die Sagen setzten ihn ganz richtig in innige Verbindung mit Delphi, von wo da- mals der Dorische Stamm, besonders Sparta, noch ganz und gar geleitet wurde, und mit Kreta, dem zu- erst ausgebildeten Theile des Dorischen Volks. Diese Verbindung gestaltete sich gewöhnlich als Reise nach beiden Orten; auch zeigte man sein Grab zu Kirrha,
1 peri nomotheton. Er erfand auch offenbar oder nahm Erfundenes auf, wenn er 20 Helfer und Freunde des Lykurg ein- zeln nannte. Plutarch Lyk. 5.
die alterthuͤmliche Einfachheit und Naivetaͤt, die der Reflexion unbeduͤrftige Sicherheit und Nothwendigkeit des Thuns, welche alle aͤchten Ueberlieferungen aus jener Zeit darſtellen, in Ephoros, Hermippos 1 und ihrer Nachfolger Darſtellungsweiſe. Dieſe hatten die Tendenz, das Andenken des Alterthums moͤglichſt der Zeitgeſchichte zu aſſimiliren, und das Beſtreben, jede Thatſache aus irgend einer einzelnen Ueberlegung, aus einem Raͤſonnement, wie es ihrer Zeit gemaͤß war, hervorgehen zu laſſen; ſie haben wahrhaft ſchonungs- los den edlen Roſt der alten Tradition abgerieben, und, die bewegenden Grundideen jener Zeit verkennend, die erhaltenen Thatſachen in einen modern-pragmatiſchen Zuſammenhang hineingezwungen. Es iſt nicht zu ſa- gen, mit wie ungluͤcklichem Eifer auch Plutarch dem altem Geſetzgeber uͤberall, wo er eben nur den politi- ſchen Sinn ſeines Stammes und Volkes ausſprach, beſondere, meiſt ungenuͤgende, oft alberne Abſichten und Plaͤne unterlegt.
5.
Wenn man nach ſolchen Grundſaͤtzen Lykurgs Geſchichte pruͤft, ſo wird man finden, daß eigentlich uͤber ihn, als Einzelperſon, ſo gut wie gar keine Nachrichten exiſtiren. Die Sagen ſetzten ihn ganz richtig in innige Verbindung mit Delphi, von wo da- mals der Doriſche Stamm, beſonders Sparta, noch ganz und gar geleitet wurde, und mit Kreta, dem zu- erſt ausgebildeten Theile des Doriſchen Volks. Dieſe Verbindung geſtaltete ſich gewoͤhnlich als Reiſe nach beiden Orten; auch zeigte man ſein Grab zu Kirrha,
1 πεϱὶ νομοϑετῶν. Er erfand auch offenbar oder nahm Erfundenes auf, wenn er 20 Helfer und Freunde des Lykurg ein- zeln nannte. Plutarch Lyk. 5.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0167"n="137"/>
die alterthuͤmliche Einfachheit und Naivetaͤt, die der<lb/>
Reflexion unbeduͤrftige Sicherheit und Nothwendigkeit<lb/>
des Thuns, welche alle aͤchten Ueberlieferungen aus<lb/>
jener Zeit darſtellen, in Ephoros, Hermippos <noteplace="foot"n="1">πεϱὶνομοϑετῶν. Er erfand auch offenbar oder nahm<lb/>
Erfundenes auf, wenn er 20 Helfer und Freunde des Lykurg ein-<lb/>
zeln <hirendition="#g">nannte</hi>. Plutarch Lyk. 5.</note> und<lb/>
ihrer Nachfolger Darſtellungsweiſe. Dieſe hatten die<lb/>
Tendenz, das Andenken des Alterthums moͤglichſt der<lb/>
Zeitgeſchichte zu aſſimiliren, und das Beſtreben, jede<lb/>
Thatſache aus irgend einer einzelnen Ueberlegung, aus<lb/>
einem Raͤſonnement, wie es ihrer Zeit gemaͤß war,<lb/>
hervorgehen zu laſſen; ſie haben wahrhaft ſchonungs-<lb/>
los den edlen Roſt der alten Tradition abgerieben, und,<lb/>
die bewegenden Grundideen jener Zeit verkennend, die<lb/>
erhaltenen Thatſachen in einen modern-pragmatiſchen<lb/>
Zuſammenhang hineingezwungen. Es iſt nicht zu ſa-<lb/>
gen, mit wie ungluͤcklichem Eifer auch Plutarch dem<lb/>
altem Geſetzgeber uͤberall, wo er eben nur den politi-<lb/>ſchen Sinn ſeines Stammes und Volkes ausſprach,<lb/>
beſondere, meiſt ungenuͤgende, oft alberne Abſichten<lb/>
und Plaͤne unterlegt.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><head>5.</head><lb/><p>Wenn man nach ſolchen Grundſaͤtzen <hirendition="#g">Lykurgs</hi><lb/>
Geſchichte pruͤft, ſo wird man finden, daß eigentlich<lb/>
uͤber ihn, als <hirendition="#g">Einzelperſon</hi>, ſo gut wie gar keine<lb/>
Nachrichten exiſtiren. Die Sagen ſetzten ihn ganz<lb/>
richtig in innige Verbindung mit Delphi, von wo da-<lb/>
mals der Doriſche Stamm, beſonders Sparta, noch<lb/>
ganz und gar geleitet wurde, und mit Kreta, dem zu-<lb/>
erſt ausgebildeten Theile des Doriſchen Volks. Dieſe<lb/>
Verbindung geſtaltete ſich gewoͤhnlich als Reiſe nach<lb/>
beiden Orten; auch zeigte man ſein Grab zu Kirrha,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[137/0167]
die alterthuͤmliche Einfachheit und Naivetaͤt, die der
Reflexion unbeduͤrftige Sicherheit und Nothwendigkeit
des Thuns, welche alle aͤchten Ueberlieferungen aus
jener Zeit darſtellen, in Ephoros, Hermippos 1 und
ihrer Nachfolger Darſtellungsweiſe. Dieſe hatten die
Tendenz, das Andenken des Alterthums moͤglichſt der
Zeitgeſchichte zu aſſimiliren, und das Beſtreben, jede
Thatſache aus irgend einer einzelnen Ueberlegung, aus
einem Raͤſonnement, wie es ihrer Zeit gemaͤß war,
hervorgehen zu laſſen; ſie haben wahrhaft ſchonungs-
los den edlen Roſt der alten Tradition abgerieben, und,
die bewegenden Grundideen jener Zeit verkennend, die
erhaltenen Thatſachen in einen modern-pragmatiſchen
Zuſammenhang hineingezwungen. Es iſt nicht zu ſa-
gen, mit wie ungluͤcklichem Eifer auch Plutarch dem
altem Geſetzgeber uͤberall, wo er eben nur den politi-
ſchen Sinn ſeines Stammes und Volkes ausſprach,
beſondere, meiſt ungenuͤgende, oft alberne Abſichten
und Plaͤne unterlegt.
5.
Wenn man nach ſolchen Grundſaͤtzen Lykurgs
Geſchichte pruͤft, ſo wird man finden, daß eigentlich
uͤber ihn, als Einzelperſon, ſo gut wie gar keine
Nachrichten exiſtiren. Die Sagen ſetzten ihn ganz
richtig in innige Verbindung mit Delphi, von wo da-
mals der Doriſche Stamm, beſonders Sparta, noch
ganz und gar geleitet wurde, und mit Kreta, dem zu-
erſt ausgebildeten Theile des Doriſchen Volks. Dieſe
Verbindung geſtaltete ſich gewoͤhnlich als Reiſe nach
beiden Orten; auch zeigte man ſein Grab zu Kirrha,
1 πεϱὶ νομοϑετῶν. Er erfand auch offenbar oder nahm
Erfundenes auf, wenn er 20 Helfer und Freunde des Lykurg ein-
zeln nannte. Plutarch Lyk. 5.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/167>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.