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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 4. Berlin, 1790.

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Alle dergleichen Unterredungen, die an sich
unbedeutend gewesen wären, erhielten in Rei¬
sers Idee einen poetischen Anstrich, durch das
Bild von dem homerischen Wanderer, welches
ihm immer vor der Seele schwebte, und selbst
die Unwahrheiten in seinen Reden hatten etwas
Uebereinstimmendes mit seinem poetischen Vor¬
bilde, dem Minerva zur Seite steht und wegen
seiner wohl überdachten Lüge ihm Beifall zu¬
lächelt.

Reiser dachte sich seinen Wirth nicht bloß als
den Wirth einer Dorfschenke, sondern als einen
Menschen, den er nie gekannt, nie gesehen
hatte, und nun auf eine Stunde lang mit ihm
zusammentraf, an einem Tische mit ihm saß,
und Worte mit ihm wechselte.

Dasjenige, was durch die menschlichen Ein¬
richtungen und Verbindungen gleichsam aus dem
Gebiete der Aufmerksamkeit herausgedrängt,
gemein und unbedeutend geworden ist, trat,
durch die Macht der Poesie, wieder in seine
Rechte, wurde wieder menschlich, und erhielt
wieder seine ursprüngliche Erhabenheit und
Würde.

Alle dergleichen Unterredungen, die an ſich
unbedeutend geweſen waͤren, erhielten in Rei¬
ſers Idee einen poetiſchen Anſtrich, durch das
Bild von dem homeriſchen Wanderer, welches
ihm immer vor der Seele ſchwebte, und ſelbſt
die Unwahrheiten in ſeinen Reden hatten etwas
Uebereinſtimmendes mit ſeinem poetiſchen Vor¬
bilde, dem Minerva zur Seite ſteht und wegen
ſeiner wohl uͤberdachten Luͤge ihm Beifall zu¬
laͤchelt.

Reiſer dachte ſich ſeinen Wirth nicht bloß als
den Wirth einer Dorfſchenke, ſondern als einen
Menſchen, den er nie gekannt, nie geſehen
hatte, und nun auf eine Stunde lang mit ihm
zuſammentraf, an einem Tiſche mit ihm ſaß,
und Worte mit ihm wechſelte.

Dasjenige, was durch die menſchlichen Ein¬
richtungen und Verbindungen gleichſam aus dem
Gebiete der Aufmerkſamkeit herausgedraͤngt,
gemein und unbedeutend geworden iſt, trat,
durch die Macht der Poeſie, wieder in ſeine
Rechte, wurde wieder menſchlich, und erhielt
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[20/0034] Alle dergleichen Unterredungen, die an ſich unbedeutend geweſen waͤren, erhielten in Rei¬ ſers Idee einen poetiſchen Anſtrich, durch das Bild von dem homeriſchen Wanderer, welches ihm immer vor der Seele ſchwebte, und ſelbſt die Unwahrheiten in ſeinen Reden hatten etwas Uebereinſtimmendes mit ſeinem poetiſchen Vor¬ bilde, dem Minerva zur Seite ſteht und wegen ſeiner wohl uͤberdachten Luͤge ihm Beifall zu¬ laͤchelt. Reiſer dachte ſich ſeinen Wirth nicht bloß als den Wirth einer Dorfſchenke, ſondern als einen Menſchen, den er nie gekannt, nie geſehen hatte, und nun auf eine Stunde lang mit ihm zuſammentraf, an einem Tiſche mit ihm ſaß, und Worte mit ihm wechſelte. Dasjenige, was durch die menſchlichen Ein¬ richtungen und Verbindungen gleichſam aus dem Gebiete der Aufmerkſamkeit herausgedraͤngt, gemein und unbedeutend geworden iſt, trat, durch die Macht der Poeſie, wieder in ſeine Rechte, wurde wieder menſchlich, und erhielt wieder ſeine urſpruͤngliche Erhabenheit und Wuͤrde.

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 4. Berlin, 1790, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser04_1790/34>, abgerufen am 23.04.2024.