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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 4. Berlin, 1790.

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ihm mit die traurigsten Stunden in seinem Le¬
ben gemacht hat, deren er sich zu erinnern weiß,
und welche ihn am meisten zurückschrecken wür¬
den, seinen Lebenslauf noch einmal von vorn
wieder durchzugehen. Denn keine größere Quaal
kann es wohl geben, als eine gänzliche Leer¬
heit der Seele, welche vergebens strebt, sich
aus diesem Zustande herauszuarbeiten, und un¬
schuldigerweise sich selber in jedem Augenblicke
die Schuld beimißt, und sich selber ihres Stumpf¬
sinns anklagt, daß sie von den erhabenen Tö¬
nen, die unaufhörlich in ihre Ohren klingen,
nicht gerührt und erschüttert wird.

Ob nun gleich N. . . und Reiser fast unzer¬
trennlich beisammen waren, so sehnte sich der
Letztre doch wieder nach einsamen Spatziergängen,
die ihm immer das reinste Vergnügen gewähret
hatten; allein dieß hatte er sich nun auch verleidet;
denn gemeiniglich versprach er sich von einem
solchen Spatziergange zu viel, und kehrte ver¬
drießlich wieder zu Hause, wenn er nicht gefun¬
den hatte, was er suchte; sobald das Dort nun
Hier wurde, hatte es auch alle seinen Reiz ver¬
loren, und der Quell der Freude war versiegt. --

ihm mit die traurigſten Stunden in ſeinem Le¬
ben gemacht hat, deren er ſich zu erinnern weiß,
und welche ihn am meiſten zuruͤckſchrecken wuͤr¬
den, ſeinen Lebenslauf noch einmal von vorn
wieder durchzugehen. Denn keine groͤßere Quaal
kann es wohl geben, als eine gaͤnzliche Leer¬
heit der Seele, welche vergebens ſtrebt, ſich
aus dieſem Zuſtande herauszuarbeiten, und un¬
ſchuldigerweiſe ſich ſelber in jedem Augenblicke
die Schuld beimißt, und ſich ſelber ihres Stumpf¬
ſinns anklagt, daß ſie von den erhabenen Toͤ¬
nen, die unaufhoͤrlich in ihre Ohren klingen,
nicht geruͤhrt und erſchuͤttert wird.

Ob nun gleich N. . . und Reiſer faſt unzer¬
trennlich beiſammen waren, ſo ſehnte ſich der
Letztre doch wieder nach einſamen Spatziergaͤngen,
die ihm immer das reinſte Vergnuͤgen gewaͤhret
hatten; allein dieß hatte er ſich nun auch verleidet;
denn gemeiniglich verſprach er ſich von einem
ſolchen Spatziergange zu viel, und kehrte ver¬
drießlich wieder zu Hauſe, wenn er nicht gefun¬
den hatte, was er ſuchte; ſobald das Dort nun
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[150/0164] ihm mit die traurigſten Stunden in ſeinem Le¬ ben gemacht hat, deren er ſich zu erinnern weiß, und welche ihn am meiſten zuruͤckſchrecken wuͤr¬ den, ſeinen Lebenslauf noch einmal von vorn wieder durchzugehen. Denn keine groͤßere Quaal kann es wohl geben, als eine gaͤnzliche Leer¬ heit der Seele, welche vergebens ſtrebt, ſich aus dieſem Zuſtande herauszuarbeiten, und un¬ ſchuldigerweiſe ſich ſelber in jedem Augenblicke die Schuld beimißt, und ſich ſelber ihres Stumpf¬ ſinns anklagt, daß ſie von den erhabenen Toͤ¬ nen, die unaufhoͤrlich in ihre Ohren klingen, nicht geruͤhrt und erſchuͤttert wird. Ob nun gleich N. . . und Reiſer faſt unzer¬ trennlich beiſammen waren, ſo ſehnte ſich der Letztre doch wieder nach einſamen Spatziergaͤngen, die ihm immer das reinſte Vergnuͤgen gewaͤhret hatten; allein dieß hatte er ſich nun auch verleidet; denn gemeiniglich verſprach er ſich von einem ſolchen Spatziergange zu viel, und kehrte ver¬ drießlich wieder zu Hauſe, wenn er nicht gefun¬ den hatte, was er ſuchte; ſobald das Dort nun Hier wurde, hatte es auch alle ſeinen Reiz ver¬ loren, und der Quell der Freude war verſiegt. —

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 4. Berlin, 1790, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser04_1790/164>, abgerufen am 27.04.2024.