Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite

Er fühlte die Wahrheit: man ist unter so
vielen Tausenden, die sind und gewesen sind,
nur einer.

Sich in das ganze Seyn und Wesen eines
andern hineindenken zu können, war oft sein
Wunsch -- wenn er so auf der Straße zuweilen
dicht neben einem ganz fremden Menschen her¬
ging -- so wurde ihm der Gedanke der Fremd¬
heit dieses Menschen, der gänzlichen Unbe¬
wußtheit des einen von dem Nahmen und
Schicksalen des andern, so lebhaft, daß er sich,
so dicht es der Wohlstand erlaubte, an eineu
solchen Menschen andrängte, um auf einen Au¬
genblick in seine Atmosphäre zu kommen, und
zu versuchen, ob er die Scheidewand nicht durch¬
dringen könnte, welche die Erinnerungen und
Gedanken dieses fremden Menschen von den sei¬
nigen trennte. --

Noch eine Empfindung aus den Jahren sei¬
ner Kindheit ist vielleicht nicht unschicklich hier
heran gezogen zu werden -- er dachte sich damals
zuweilen, wenn er andere Eltern, als die seinigen
hätte, und die seinigen ihn nun nichts angingen,
sondern ihm ganz gleichgültig wären. -- -- Ueber

C 4

Er fuͤhlte die Wahrheit: man iſt unter ſo
vielen Tauſenden, die ſind und geweſen ſind,
nur einer.

Sich in das ganze Seyn und Weſen eines
andern hineindenken zu koͤnnen, war oft ſein
Wunſch — wenn er ſo auf der Straße zuweilen
dicht neben einem ganz fremden Menſchen her¬
ging — ſo wurde ihm der Gedanke der Fremd¬
heit dieſes Menſchen, der gaͤnzlichen Unbe¬
wußtheit des einen von dem Nahmen und
Schickſalen des andern, ſo lebhaft, daß er ſich,
ſo dicht es der Wohlſtand erlaubte, an eineu
ſolchen Menſchen andraͤngte, um auf einen Au¬
genblick in ſeine Atmoſphaͤre zu kommen, und
zu verſuchen, ob er die Scheidewand nicht durch¬
dringen koͤnnte, welche die Erinnerungen und
Gedanken dieſes fremden Menſchen von den ſei¬
nigen trennte. —

Noch eine Empfindung aus den Jahren ſei¬
ner Kindheit iſt vielleicht nicht unſchicklich hier
heran gezogen zu werden — er dachte ſich damals
zuweilen, wenn er andere Eltern, als die ſeinigen
haͤtte, und die ſeinigen ihn nun nichts angingen,
ſondern ihm ganz gleichguͤltig waͤren. — — Ueber

C 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0049" n="39"/>
      <p>Er fu&#x0364;hlte die Wahrheit: man i&#x017F;t unter &#x017F;o<lb/>
vielen Tau&#x017F;enden, die &#x017F;ind und gewe&#x017F;en &#x017F;ind,<lb/>
nur einer.</p><lb/>
      <p>Sich in das ganze Seyn und We&#x017F;en eines<lb/>
andern hineindenken zu ko&#x0364;nnen, war oft &#x017F;ein<lb/>
Wun&#x017F;ch &#x2014; wenn er &#x017F;o auf der Straße zuweilen<lb/>
dicht neben einem ganz fremden Men&#x017F;chen her¬<lb/>
ging &#x2014; &#x017F;o wurde ihm der Gedanke der <hi rendition="#fr">Fremd</hi>¬<lb/><hi rendition="#fr">heit</hi> die&#x017F;es Men&#x017F;chen, der ga&#x0364;nzlichen <hi rendition="#fr">Unbe</hi>¬<lb/><hi rendition="#fr">wußtheit</hi> des einen von dem Nahmen und<lb/>
Schick&#x017F;alen des andern, &#x017F;o lebhaft, daß er &#x017F;ich,<lb/>
&#x017F;o dicht es der Wohl&#x017F;tand erlaubte, an eineu<lb/>
&#x017F;olchen Men&#x017F;chen andra&#x0364;ngte, um auf einen Au¬<lb/>
genblick in &#x017F;eine Atmo&#x017F;pha&#x0364;re zu kommen, und<lb/>
zu ver&#x017F;uchen, ob er die Scheidewand nicht durch¬<lb/>
dringen ko&#x0364;nnte, welche die Erinnerungen und<lb/>
Gedanken die&#x017F;es fremden Men&#x017F;chen von den &#x017F;ei¬<lb/>
nigen trennte. &#x2014;</p><lb/>
      <p>Noch eine Empfindung aus den Jahren &#x017F;ei¬<lb/>
ner Kindheit i&#x017F;t vielleicht nicht un&#x017F;chicklich hier<lb/>
heran gezogen zu werden &#x2014; er dachte &#x017F;ich damals<lb/>
zuweilen, wenn er andere Eltern, als die &#x017F;einigen<lb/>
ha&#x0364;tte, und die &#x017F;einigen ihn nun nichts angingen,<lb/>
&#x017F;ondern ihm ganz gleichgu&#x0364;ltig wa&#x0364;ren. &#x2014; &#x2014; Ueber<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 4<lb/></fw>
</p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0049] Er fuͤhlte die Wahrheit: man iſt unter ſo vielen Tauſenden, die ſind und geweſen ſind, nur einer. Sich in das ganze Seyn und Weſen eines andern hineindenken zu koͤnnen, war oft ſein Wunſch — wenn er ſo auf der Straße zuweilen dicht neben einem ganz fremden Menſchen her¬ ging — ſo wurde ihm der Gedanke der Fremd¬ heit dieſes Menſchen, der gaͤnzlichen Unbe¬ wußtheit des einen von dem Nahmen und Schickſalen des andern, ſo lebhaft, daß er ſich, ſo dicht es der Wohlſtand erlaubte, an eineu ſolchen Menſchen andraͤngte, um auf einen Au¬ genblick in ſeine Atmoſphaͤre zu kommen, und zu verſuchen, ob er die Scheidewand nicht durch¬ dringen koͤnnte, welche die Erinnerungen und Gedanken dieſes fremden Menſchen von den ſei¬ nigen trennte. — Noch eine Empfindung aus den Jahren ſei¬ ner Kindheit iſt vielleicht nicht unſchicklich hier heran gezogen zu werden — er dachte ſich damals zuweilen, wenn er andere Eltern, als die ſeinigen haͤtte, und die ſeinigen ihn nun nichts angingen, ſondern ihm ganz gleichguͤltig waͤren. — — Ueber C 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/49
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/49>, abgerufen am 21.11.2024.