Sobald sich auch sein Ausdruck dahin lenkte, wurde er natürlich und wahr. -- Wie er denn einmal den Auftrag erhielt, für jemanden ver¬ liebte Klagen zu dichten. -- Eine Situation, in welche er sich mit aller Anstrengung nicht ver¬ setzen konnte, denn weil er gar nicht glaubte, daß er von einem Frauenzimmer je geliebt werden könnte -- indem er sein ganzes Aeußre einmal für so wenig empfelend hielt, daß er gänzlich Verzicht darauf gethan hatte, je zu gefallen; so konnte er sich nie in die Lage eines solchen setzen, der darüber klagt, daß er nicht geliebt wird -- was er also hievon wußte, das dachte er sich bloß, ohne es je empfinden zu können. -- Dem¬ ohngeachtet geriethen ihm die verliebten Kla¬ gen, die er entwarf, nicht ganz übel, weil er das kurz darin zusammendrängte, was er aus Romanen und Philipp Reisers Unterredungen wußte. -- Zuletzt aber dachte er sich nun den Liebhaber in einem Zustande, wo er vom Ueber¬ rest seiner Leiden niedergedrückt der Verzweiflung nahe ist, und ohne nun ferner auf die Ursach der Verzweiflung Rücksicht zu nehmen, dachte er sich nun den Verzweiflungsvollen, und konnte sich
Sobald ſich auch ſein Ausdruck dahin lenkte, wurde er natuͤrlich und wahr. — Wie er denn einmal den Auftrag erhielt, fuͤr jemanden ver¬ liebte Klagen zu dichten. — Eine Situation, in welche er ſich mit aller Anſtrengung nicht ver¬ ſetzen konnte, denn weil er gar nicht glaubte, daß er von einem Frauenzimmer je geliebt werden koͤnnte — indem er ſein ganzes Aeußre einmal fuͤr ſo wenig empfelend hielt, daß er gaͤnzlich Verzicht darauf gethan hatte, je zu gefallen; ſo konnte er ſich nie in die Lage eines ſolchen ſetzen, der daruͤber klagt, daß er nicht geliebt wird — was er alſo hievon wußte, das dachte er ſich bloß, ohne es je empfinden zu koͤnnen. — Dem¬ ohngeachtet geriethen ihm die verliebten Kla¬ gen, die er entwarf, nicht ganz uͤbel, weil er das kurz darin zuſammendraͤngte, was er aus Romanen und Philipp Reiſers Unterredungen wußte. — Zuletzt aber dachte er ſich nun den Liebhaber in einem Zuſtande, wo er vom Ueber¬ reſt ſeiner Leiden niedergedruͤckt der Verzweiflung nahe iſt, und ohne nun ferner auf die Urſach der Verzweiflung Ruͤckſicht zu nehmen, dachte er ſich nun den Verzweiflungsvollen, und konnte ſich
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Sobald ſich auch ſein Ausdruck dahin lenkte,
wurde er natuͤrlich und wahr. — Wie er denn
einmal den Auftrag erhielt, fuͤr jemanden ver¬
liebte Klagen zu dichten. — Eine Situation,
in welche er ſich mit aller Anſtrengung nicht ver¬
ſetzen konnte, denn weil er gar nicht glaubte, daß
er von einem Frauenzimmer je geliebt werden
koͤnnte — indem er ſein ganzes Aeußre einmal
fuͤr ſo wenig empfelend hielt, daß er gaͤnzlich
Verzicht darauf gethan hatte, je zu gefallen; ſo
konnte er ſich nie in die Lage eines ſolchen ſetzen,
der daruͤber klagt, daß er nicht geliebt wird —
was er alſo hievon wußte, das dachte er ſich
bloß, ohne es je empfinden zu koͤnnen. — Dem¬
ohngeachtet geriethen ihm die verliebten Kla¬
gen, die er entwarf, nicht ganz uͤbel, weil er
das kurz darin zuſammendraͤngte, was er aus
Romanen und Philipp Reiſers Unterredungen
wußte. — Zuletzt aber dachte er ſich nun den
Liebhaber in einem Zuſtande, wo er vom Ueber¬
reſt ſeiner Leiden niedergedruͤckt der Verzweiflung
nahe iſt, und ohne nun ferner auf die Urſach der
Verzweiflung Ruͤckſicht zu nehmen, dachte er ſich
nun den Verzweiflungsvollen, und konnte ſich
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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/165>, abgerufen am 16.02.2025.
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