Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite

seiner Kindheit und seiner Jugend zubrachte, wa¬
ren gewiß damals die angenehmsten seines Lebens.
Hier war es allein, wo er sich mit völligem Zu¬
trauen gewissermaßen, wie zu Hause fühlte.

Am Mittwoch aß er denn bei seinem Wirth,
wo das wenige, was er genoß, so gut es auch
diese Leute übrigens mit ihm meinen mochten, ihm
doch fast jedesmal so verbittert wurde, daß er sich
vor diesem Tage fast mehr, wie vor allen andern
fürchtete. Denn an diesem Mittage pflegte seine
Wohlthäterinn die Frau F... immer nicht gera¬
dezu, sondern nur in gewissen Anspielungen, in¬
dem sie zu ihrem Manne sprach, Reisers Betra¬
gen durchzugehen, ihm die Dankbarkeit gegen sei¬
ne Wohlthäter einzuschärfen, und etwas von Leu¬
ten mit einfließen lassen, die sich angewöhnt hät¬
ten sehr viel zu essen, und am Ende gar nicht
mehr zu sättigen gewesen wären. -- Reiser hatte
damals, da er in seinem vollen Wachsthum war,
würklich sehr guten Appetit, allein mit Zittern
steckte er jeden Bissen in den Mund, wenn er
dergleichen Anspielungen hörte. Bei der Frau
F... geschahe es nun wirklich nicht sowohl aus
Geiz oder Neid, daß sie dergleichen Anspielungen

C 2

ſeiner Kindheit und ſeiner Jugend zubrachte, wa¬
ren gewiß damals die angenehmſten ſeines Lebens.
Hier war es allein, wo er ſich mit voͤlligem Zu¬
trauen gewiſſermaßen, wie zu Hauſe fuͤhlte.

Am Mittwoch aß er denn bei ſeinem Wirth,
wo das wenige, was er genoß, ſo gut es auch
dieſe Leute uͤbrigens mit ihm meinen mochten, ihm
doch faſt jedesmal ſo verbittert wurde, daß er ſich
vor dieſem Tage faſt mehr, wie vor allen andern
fuͤrchtete. Denn an dieſem Mittage pflegte ſeine
Wohlthaͤterinn die Frau F... immer nicht gera¬
dezu, ſondern nur in gewiſſen Anſpielungen, in¬
dem ſie zu ihrem Manne ſprach, Reiſers Betra¬
gen durchzugehen, ihm die Dankbarkeit gegen ſei¬
ne Wohlthaͤter einzuſchaͤrfen, und etwas von Leu¬
ten mit einfließen laſſen, die ſich angewoͤhnt haͤt¬
ten ſehr viel zu eſſen, und am Ende gar nicht
mehr zu ſaͤttigen geweſen waͤren. — Reiſer hatte
damals, da er in ſeinem vollen Wachsthum war,
wuͤrklich ſehr guten Appetit, allein mit Zittern
ſteckte er jeden Biſſen in den Mund, wenn er
dergleichen Anſpielungen hoͤrte. Bei der Frau
F... geſchahe es nun wirklich nicht ſowohl aus
Geiz oder Neid, daß ſie dergleichen Anſpielungen

C 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0045" n="35"/>
&#x017F;einer Kindheit und &#x017F;einer Jugend zubrachte, wa¬<lb/>
ren gewiß damals die angenehm&#x017F;ten &#x017F;eines Lebens.<lb/>
Hier war es allein, wo er &#x017F;ich mit vo&#x0364;lligem Zu¬<lb/>
trauen gewi&#x017F;&#x017F;ermaßen, wie zu Hau&#x017F;e fu&#x0364;hlte.</p><lb/>
      <p>Am Mittwoch aß er denn bei &#x017F;einem Wirth,<lb/>
wo das wenige, was er genoß, &#x017F;o gut es auch<lb/>
die&#x017F;e Leute u&#x0364;brigens mit ihm meinen mochten, ihm<lb/>
doch fa&#x017F;t jedesmal &#x017F;o verbittert wurde, daß er &#x017F;ich<lb/>
vor die&#x017F;em Tage fa&#x017F;t mehr, wie vor allen andern<lb/>
fu&#x0364;rchtete. Denn an die&#x017F;em Mittage pflegte &#x017F;eine<lb/>
Wohltha&#x0364;terinn die Frau F... immer nicht gera¬<lb/>
dezu, &#x017F;ondern nur in gewi&#x017F;&#x017F;en An&#x017F;pielungen, in¬<lb/>
dem &#x017F;ie zu ihrem Manne &#x017F;prach, Rei&#x017F;ers Betra¬<lb/>
gen durchzugehen, ihm die Dankbarkeit gegen &#x017F;ei¬<lb/>
ne Wohltha&#x0364;ter einzu&#x017F;cha&#x0364;rfen, und etwas von Leu¬<lb/>
ten mit einfließen la&#x017F;&#x017F;en, die &#x017F;ich angewo&#x0364;hnt ha&#x0364;<lb/>
ten &#x017F;ehr viel zu e&#x017F;&#x017F;en, und am Ende gar nicht<lb/>
mehr zu &#x017F;a&#x0364;ttigen gewe&#x017F;en wa&#x0364;ren. &#x2014; Rei&#x017F;er hatte<lb/>
damals, da er in &#x017F;einem vollen Wachsthum war,<lb/>
wu&#x0364;rklich &#x017F;ehr guten Appetit, allein mit Zittern<lb/>
&#x017F;teckte er jeden Bi&#x017F;&#x017F;en in den Mund, wenn er<lb/>
dergleichen An&#x017F;pielungen ho&#x0364;rte. Bei der Frau<lb/>
F... ge&#x017F;chahe es nun wirklich nicht &#x017F;owohl aus<lb/>
Geiz oder Neid, daß &#x017F;ie dergleichen An&#x017F;pielungen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 2<lb/></fw>
</p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0045] ſeiner Kindheit und ſeiner Jugend zubrachte, wa¬ ren gewiß damals die angenehmſten ſeines Lebens. Hier war es allein, wo er ſich mit voͤlligem Zu¬ trauen gewiſſermaßen, wie zu Hauſe fuͤhlte. Am Mittwoch aß er denn bei ſeinem Wirth, wo das wenige, was er genoß, ſo gut es auch dieſe Leute uͤbrigens mit ihm meinen mochten, ihm doch faſt jedesmal ſo verbittert wurde, daß er ſich vor dieſem Tage faſt mehr, wie vor allen andern fuͤrchtete. Denn an dieſem Mittage pflegte ſeine Wohlthaͤterinn die Frau F... immer nicht gera¬ dezu, ſondern nur in gewiſſen Anſpielungen, in¬ dem ſie zu ihrem Manne ſprach, Reiſers Betra¬ gen durchzugehen, ihm die Dankbarkeit gegen ſei¬ ne Wohlthaͤter einzuſchaͤrfen, und etwas von Leu¬ ten mit einfließen laſſen, die ſich angewoͤhnt haͤt¬ ten ſehr viel zu eſſen, und am Ende gar nicht mehr zu ſaͤttigen geweſen waͤren. — Reiſer hatte damals, da er in ſeinem vollen Wachsthum war, wuͤrklich ſehr guten Appetit, allein mit Zittern ſteckte er jeden Biſſen in den Mund, wenn er dergleichen Anſpielungen hoͤrte. Bei der Frau F... geſchahe es nun wirklich nicht ſowohl aus Geiz oder Neid, daß ſie dergleichen Anſpielungen C 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/45
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/45>, abgerufen am 22.11.2024.