der einzelnen Laute durch die Sprachwerkzeuge: so trocken ihm dieses schien, so las er es doch aus Mangel an etwas bessern, mit der größten Standhaftigkeit, nach der Reihe durch.
Durch das Lesen war ihm nun auf einmal eine neue Welt eröfnet, in deren Genuß er sich für alle das Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts als Lermen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte, oder er sich vergeblich nach einem Gespielen um¬ sah, so eilte er hin zu seinem Buche.
So ward er schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealische Welt verdrängt, wo sein Geist für tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andre mit vol¬ ler Seele genießen können.
Schon im achten Jahre bekam er eine Art von auszehrender Krankheit. Man gab ihn völlig auf, und er hörte beständig von sich, wie von einem, der schon wie ein Todter beobachtet wird, reden. Dieß war ihm immer lächerlich, oder vielmehr war ihm das Sterben selbst, wie er sich damals vorstellte, mehr etwas Lächerliches, als etwas
Ernst¬
der einzelnen Laute durch die Sprachwerkzeuge: ſo trocken ihm dieſes ſchien, ſo las er es doch aus Mangel an etwas beſſern, mit der groͤßten Standhaftigkeit, nach der Reihe durch.
Durch das Leſen war ihm nun auf einmal eine neue Welt eroͤfnet, in deren Genuß er ſich fuͤr alle das Unangenehme in ſeiner wirklichen Welt einigermaßen entſchaͤdigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts als Lermen und Schelten und haͤusliche Zwietracht herrſchte, oder er ſich vergeblich nach einem Geſpielen um¬ ſah, ſo eilte er hin zu ſeinem Buche.
So ward er ſchon fruͤh aus der natuͤrlichen Kinderwelt in eine unnatuͤrliche idealiſche Welt verdraͤngt, wo ſein Geiſt fuͤr tauſend Freuden des Lebens verſtimmt wurde, die andre mit vol¬ ler Seele genießen koͤnnen.
Schon im achten Jahre bekam er eine Art von auszehrender Krankheit. Man gab ihn voͤllig auf, und er hoͤrte beſtaͤndig von ſich, wie von einem, der ſchon wie ein Todter beobachtet wird, reden. Dieß war ihm immer laͤcherlich, oder vielmehr war ihm das Sterben ſelbſt, wie er ſich damals vorſtellte, mehr etwas Laͤcherliches, als etwas
Ernſt¬
<TEI><text><body><p><pbfacs="#f0026"n="16"/>
der einzelnen Laute durch die Sprachwerkzeuge:<lb/>ſo trocken ihm dieſes ſchien, ſo las er es doch<lb/>
aus Mangel an etwas beſſern, mit der groͤßten<lb/>
Standhaftigkeit, nach der Reihe durch.</p><lb/><p>Durch das Leſen war ihm nun auf einmal<lb/>
eine neue Welt eroͤfnet, in deren Genuß er ſich<lb/>
fuͤr alle das Unangenehme in ſeiner wirklichen<lb/>
Welt einigermaßen entſchaͤdigen konnte. Wenn<lb/>
nun rund um ihn her nichts als Lermen und<lb/>
Schelten und haͤusliche Zwietracht herrſchte,<lb/>
oder er ſich vergeblich nach einem Geſpielen um¬<lb/>ſah, ſo eilte er hin zu ſeinem Buche.</p><lb/><p>So ward er ſchon fruͤh aus der natuͤrlichen<lb/>
Kinderwelt in eine unnatuͤrliche idealiſche Welt<lb/>
verdraͤngt, wo ſein Geiſt fuͤr tauſend Freuden<lb/>
des Lebens verſtimmt wurde, die andre mit vol¬<lb/>
ler Seele genießen koͤnnen.</p><lb/><p>Schon im achten Jahre bekam er eine Art von<lb/>
auszehrender Krankheit. Man gab ihn voͤllig auf,<lb/>
und er hoͤrte beſtaͤndig von ſich, wie von einem,<lb/>
der ſchon wie ein Todter beobachtet wird, reden.<lb/>
Dieß war ihm immer laͤcherlich, oder vielmehr<lb/>
war ihm das Sterben ſelbſt, wie er ſich damals<lb/>
vorſtellte, mehr etwas Laͤcherliches, als etwas<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Ernſt¬<lb/></fw></p></body></text></TEI>
[16/0026]
der einzelnen Laute durch die Sprachwerkzeuge:
ſo trocken ihm dieſes ſchien, ſo las er es doch
aus Mangel an etwas beſſern, mit der groͤßten
Standhaftigkeit, nach der Reihe durch.
Durch das Leſen war ihm nun auf einmal
eine neue Welt eroͤfnet, in deren Genuß er ſich
fuͤr alle das Unangenehme in ſeiner wirklichen
Welt einigermaßen entſchaͤdigen konnte. Wenn
nun rund um ihn her nichts als Lermen und
Schelten und haͤusliche Zwietracht herrſchte,
oder er ſich vergeblich nach einem Geſpielen um¬
ſah, ſo eilte er hin zu ſeinem Buche.
So ward er ſchon fruͤh aus der natuͤrlichen
Kinderwelt in eine unnatuͤrliche idealiſche Welt
verdraͤngt, wo ſein Geiſt fuͤr tauſend Freuden
des Lebens verſtimmt wurde, die andre mit vol¬
ler Seele genießen koͤnnen.
Schon im achten Jahre bekam er eine Art von
auszehrender Krankheit. Man gab ihn voͤllig auf,
und er hoͤrte beſtaͤndig von ſich, wie von einem,
der ſchon wie ein Todter beobachtet wird, reden.
Dieß war ihm immer laͤcherlich, oder vielmehr
war ihm das Sterben ſelbſt, wie er ſich damals
vorſtellte, mehr etwas Laͤcherliches, als etwas
Ernſt¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/26>, abgerufen am 27.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.