Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Um von dem Ganzen seines hiesigen Lebens
ein anschauliches Bild zu haben, war es nöthig,
daß gleichsam alle die Fäden abgeschnitten wur¬
den, die seine Aufmerksamkeit immer an das
Momentane, Alltägliche und Zerstückte desselben
hefteten; und daß er zugleich in den Standpunkt
wieder versetzt wurde, aus welchem er sein Leben
in B... betrachtete, ehe er es anfing, da es noch
wie eine dämmernde Zukunft vor ihm lag.

In diesen Standpunkt wurde er nun gerade
versetzt, da er zufälligerweise aus dem Thore
ging, durch welches er vor ohngefähr anderthalb
Jahren, auf der breiten mit Weiden bepflanzten
Heerstraße herein gekommen war, und die
Schildwache auf dem hohen Walle hatte hin
und her gehen sehen.

Dieser Ort mußte es gerade seyn, der ihn
durch die plötzliche Erinnerung an tausend Klei¬
nigkeiten gerade in den Zustand wieder zu ver¬
setzen schien, worin er sich unmittelbar vor dem
Anfange seines hiesigen Lebens befand. -- Alles,
was dazwischen lag, mußte sich nun in seiner
Einbildungskraft zusammendrängen, wie Schat¬
ten ineinander gehen, einem Traum ähnlich

werden.

Um von dem Ganzen ſeines hieſigen Lebens
ein anſchauliches Bild zu haben, war es noͤthig,
daß gleichſam alle die Faͤden abgeſchnitten wur¬
den, die ſeine Aufmerkſamkeit immer an das
Momentane, Alltaͤgliche und Zerſtuͤckte deſſelben
hefteten; und daß er zugleich in den Standpunkt
wieder verſetzt wurde, aus welchem er ſein Leben
in B... betrachtete, ehe er es anfing, da es noch
wie eine daͤmmernde Zukunft vor ihm lag.

In dieſen Standpunkt wurde er nun gerade
verſetzt, da er zufaͤlligerweiſe aus dem Thore
ging, durch welches er vor ohngefaͤhr anderthalb
Jahren, auf der breiten mit Weiden bepflanzten
Heerſtraße herein gekommen war, und die
Schildwache auf dem hohen Walle hatte hin
und her gehen ſehen.

Dieſer Ort mußte es gerade ſeyn, der ihn
durch die ploͤtzliche Erinnerung an tauſend Klei¬
nigkeiten gerade in den Zuſtand wieder zu ver¬
ſetzen ſchien, worin er ſich unmittelbar vor dem
Anfange ſeines hieſigen Lebens befand. — Alles,
was dazwiſchen lag, mußte ſich nun in ſeiner
Einbildungskraft zuſammendraͤngen, wie Schat¬
ten ineinander gehen, einem Traum aͤhnlich

werden.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0154" n="144"/>
      <p>Um von dem Ganzen &#x017F;eines hie&#x017F;igen Lebens<lb/>
ein an&#x017F;chauliches Bild zu haben, war es no&#x0364;thig,<lb/>
daß gleich&#x017F;am alle die Fa&#x0364;den abge&#x017F;chnitten wur¬<lb/>
den, die &#x017F;eine Aufmerk&#x017F;amkeit immer an das<lb/><hi rendition="#fr">Momentane</hi>, Allta&#x0364;gliche und Zer&#x017F;tu&#x0364;ckte de&#x017F;&#x017F;elben<lb/>
hefteten; und daß er zugleich in den Standpunkt<lb/>
wieder ver&#x017F;etzt wurde, aus welchem er &#x017F;ein Leben<lb/>
in B... betrachtete, ehe er es anfing, da es noch<lb/>
wie eine da&#x0364;mmernde Zukunft vor ihm lag.</p><lb/>
      <p>In die&#x017F;en Standpunkt wurde er nun gerade<lb/>
ver&#x017F;etzt, da er zufa&#x0364;lligerwei&#x017F;e aus dem Thore<lb/>
ging, durch welches er vor ohngefa&#x0364;hr anderthalb<lb/>
Jahren, auf der breiten mit Weiden bepflanzten<lb/>
Heer&#x017F;traße herein gekommen war, und die<lb/>
Schildwache auf dem hohen Walle hatte hin<lb/>
und her gehen &#x017F;ehen.</p><lb/>
      <p>Die&#x017F;er Ort mußte es gerade &#x017F;eyn, der ihn<lb/>
durch die plo&#x0364;tzliche Erinnerung an tau&#x017F;end Klei¬<lb/>
nigkeiten gerade in den Zu&#x017F;tand wieder zu ver¬<lb/>
&#x017F;etzen &#x017F;chien, worin er &#x017F;ich unmittelbar vor dem<lb/>
Anfange &#x017F;eines hie&#x017F;igen Lebens befand. &#x2014; Alles,<lb/>
was dazwi&#x017F;chen lag, mußte &#x017F;ich nun in &#x017F;einer<lb/>
Einbildungskraft zu&#x017F;ammendra&#x0364;ngen, wie Schat¬<lb/>
ten ineinander gehen, einem Traum a&#x0364;hnlich<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">werden.<lb/></fw>
</p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0154] Um von dem Ganzen ſeines hieſigen Lebens ein anſchauliches Bild zu haben, war es noͤthig, daß gleichſam alle die Faͤden abgeſchnitten wur¬ den, die ſeine Aufmerkſamkeit immer an das Momentane, Alltaͤgliche und Zerſtuͤckte deſſelben hefteten; und daß er zugleich in den Standpunkt wieder verſetzt wurde, aus welchem er ſein Leben in B... betrachtete, ehe er es anfing, da es noch wie eine daͤmmernde Zukunft vor ihm lag. In dieſen Standpunkt wurde er nun gerade verſetzt, da er zufaͤlligerweiſe aus dem Thore ging, durch welches er vor ohngefaͤhr anderthalb Jahren, auf der breiten mit Weiden bepflanzten Heerſtraße herein gekommen war, und die Schildwache auf dem hohen Walle hatte hin und her gehen ſehen. Dieſer Ort mußte es gerade ſeyn, der ihn durch die ploͤtzliche Erinnerung an tauſend Klei¬ nigkeiten gerade in den Zuſtand wieder zu ver¬ ſetzen ſchien, worin er ſich unmittelbar vor dem Anfange ſeines hieſigen Lebens befand. — Alles, was dazwiſchen lag, mußte ſich nun in ſeiner Einbildungskraft zuſammendraͤngen, wie Schat¬ ten ineinander gehen, einem Traum aͤhnlich werden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/154
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 1. Berlin, 1785, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser01_1785/154>, abgerufen am 12.10.2024.