In der Gestalt des Adlers, welcher den Don- ner trug, entführte Jupiter seinen Liebling, von dem Gipfel des Ida, und trug ihn sanft in den gekrümmten Klauen, schwebend, von der Erd' empor.
In diese schöne Dichtung hüllte die tröstende Phantasie den frühen Verlust des Jünglings ein, dessen Jugend und Schönheit man sich unmöglich als sterblich denken konnte, und daher sein Ver- schwinden, als eine Hinwegrückung von der Erde zum Sitz der unsterblichen Götter sich erklärte.
In diese Sehnsucht nach dem Genuß eines höhern Daseyns, lößt, nach der erhabnen Dar- stellung eines neuern Dichters, die schöne Fabel vom Ganymed sich auf:
Ganymed.
Wie im Morgenglanze Du rings mich anglühst, Frühling, Geliebter! Mit tausendfacher Liebeswonne Sich an mein Herz drängt Deiner ewigen Wärme Heilig Gefühl, Unendliche Schöne!
Daß ich dich fassen möcht' In diesen Arm!
In der Geſtalt des Adlers, welcher den Don- ner trug, entfuͤhrte Jupiter ſeinen Liebling, von dem Gipfel des Ida, und trug ihn ſanft in den gekruͤmmten Klauen, ſchwebend, von der Erd’ empor.
In dieſe ſchoͤne Dichtung huͤllte die troͤſtende Phantaſie den fruͤhen Verluſt des Juͤnglings ein, deſſen Jugend und Schoͤnheit man ſich unmoͤglich als ſterblich denken konnte, und daher ſein Ver- ſchwinden, als eine Hinwegruͤckung von der Erde zum Sitz der unſterblichen Goͤtter ſich erklaͤrte.
In dieſe Sehnſucht nach dem Genuß eines hoͤhern Daſeyns, loͤßt, nach der erhabnen Dar- ſtellung eines neuern Dichters, die ſchoͤne Fabel vom Ganymed ſich auf:
Ganymed.
Wie im Morgenglanze Du rings mich angluͤhſt, Fruͤhling, Geliebter! Mit tauſendfacher Liebeswonne Sich an mein Herz draͤngt Deiner ewigen Waͤrme Heilig Gefuͤhl, Unendliche Schoͤne!
Daß ich dich faſſen moͤcht’ In dieſen Arm!
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0399"n="331"/><p>In der Geſtalt des Adlers, welcher den Don-<lb/>
ner trug, entfuͤhrte Jupiter ſeinen Liebling, von<lb/>
dem Gipfel des Ida, und trug ihn ſanft in den<lb/>
gekruͤmmten Klauen, ſchwebend, von der Erd’<lb/>
empor.</p><lb/><p>In dieſe ſchoͤne Dichtung huͤllte die troͤſtende<lb/>
Phantaſie den fruͤhen Verluſt des Juͤnglings ein,<lb/>
deſſen Jugend und Schoͤnheit man ſich unmoͤglich<lb/>
als ſterblich denken konnte, und daher ſein <hirendition="#fr">Ver-<lb/>ſchwinden,</hi> als eine Hinwegruͤckung von der Erde<lb/>
zum Sitz der unſterblichen Goͤtter ſich erklaͤrte.</p><lb/><p>In dieſe Sehnſucht nach dem Genuß eines<lb/>
hoͤhern Daſeyns, loͤßt, nach der erhabnen Dar-<lb/>ſtellung eines neuern Dichters, die ſchoͤne Fabel<lb/>
vom Ganymed ſich auf:</p><lb/><lgtype="poem"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Ganymed</hi>.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lgn="1"><l><hirendition="#in">W</hi>ie im Morgenglanze</l><lb/><l>Du rings mich angluͤhſt,</l><lb/><l>Fruͤhling, Geliebter!</l><lb/><l>Mit tauſendfacher Liebeswonne</l><lb/><l>Sich an mein Herz draͤngt</l><lb/><l>Deiner ewigen Waͤrme</l><lb/><l>Heilig Gefuͤhl,</l><lb/><l>Unendliche Schoͤne!</l></lg><lb/><lgn="2"><l>Daß ich dich faſſen moͤcht’</l><lb/><l>In dieſen Arm!</l></lg><lb/></lg></div></div></body></text></TEI>
[331/0399]
In der Geſtalt des Adlers, welcher den Don-
ner trug, entfuͤhrte Jupiter ſeinen Liebling, von
dem Gipfel des Ida, und trug ihn ſanft in den
gekruͤmmten Klauen, ſchwebend, von der Erd’
empor.
In dieſe ſchoͤne Dichtung huͤllte die troͤſtende
Phantaſie den fruͤhen Verluſt des Juͤnglings ein,
deſſen Jugend und Schoͤnheit man ſich unmoͤglich
als ſterblich denken konnte, und daher ſein Ver-
ſchwinden, als eine Hinwegruͤckung von der Erde
zum Sitz der unſterblichen Goͤtter ſich erklaͤrte.
In dieſe Sehnſucht nach dem Genuß eines
hoͤhern Daſeyns, loͤßt, nach der erhabnen Dar-
ſtellung eines neuern Dichters, die ſchoͤne Fabel
vom Ganymed ſich auf:
Ganymed.
Wie im Morgenglanze
Du rings mich angluͤhſt,
Fruͤhling, Geliebter!
Mit tauſendfacher Liebeswonne
Sich an mein Herz draͤngt
Deiner ewigen Waͤrme
Heilig Gefuͤhl,
Unendliche Schoͤne!
Daß ich dich faſſen moͤcht’
In dieſen Arm!
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/399>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.