Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792.4. Schreiben des Herrn an Herrn Obereit*). S. Maimon Mein Herr! Gegrüßet seyn Sie im ewigen Frieden! Ein alter Schweitzer kommt von der Südseite, der brave Pole von der Ostseite Europens, können sie zusam- *) Man ist zu sehr geneigt, eine jede Denkungsart, die sich nicht durch Klarheit, Bestimmtheit und Richtigkeit des Ausdrucks zu erkennen giebt, für Schwärmerei auszugeben. Dieses hat auch in den mehresten Fällen seine Richtigkeit. Es kann aber auch Fälle geben, wo die Erhabenheit des Gegenstandes eine solche Fülle der Gedanken verursacht, die allen Ausdruck hinter sich läßt. Hier entsteht eben dieselbe Erscheinung; der von der Größe seines Gegenstandes durchdrungene Geist findet keinen dieser Größe angemessenen Ausdruck, er versucht dieses auf verschiedene Arten, ist aber mit keiner derselben völlig zufrieden. Dieses wird gemeinhin (da man bloß auf die Erscheinung an sich, nicht aber auf ihre Entstehungsart Rücksicht nimmt) auch Schwärmerei genannt. Aber welcher himmelweite Unterschied ist nicht zwischen diesen beiden Arten? Daß Herrn Aufsätze zu dieser zweiten Art gehören, muß jeder Wahrheitsfreund eingestehn. Genaue Bekanntschaft mit allen philosophischen Systemen, richtige Beurtheilung derselben, und unpartheiische Bemerkung ihrer Mängel leuchtet überall hervor. Aber noch über diesem eine tiefe, über allen Ausdruck erhabene Einsicht in die Möglichkeit ihrer Vereinigung, der herzlichste Wunsch, diesen Vereinigungspunkt (sowohl zur Erweiterung unsrer Erkenntniß, als zu unsrer moralischen und physischen Vervollkommnung) ausfindig zu machen, und eine edle Einfalt im Vortrage, die ihres gleichen kaum hat. Dergleichen Aufsätze verdienen daher als psychologische Erscheinungen allerdings einen Platz in diesem Magazin. Sie sind aber psychologische Erscheinungen von einer höheren Art, und unterscheiden sich von den andern Erscheinungen von Schwärmerei u.s.w. dadurch, daß anstatt daß diese uns die demüthigende Vorstellung von der ObereitsEbbe der menschlichen Natur, jene hingegen die zu unsrer beständigen Fahrt zur Vervollkommnung günstige Fluth zu Gesicht bringen. --
4. Schreiben des Herrn an Herrn Obereit*). S. Maimon Mein Herr! Gegruͤßet seyn Sie im ewigen Frieden! Ein alter Schweitzer kommt von der Suͤdseite, der brave Pole von der Ostseite Europens, koͤnnen sie zusam- *) Man ist zu sehr geneigt, eine jede Denkungsart, die sich nicht durch Klarheit, Bestimmtheit und Richtigkeit des Ausdrucks zu erkennen giebt, fuͤr Schwaͤrmerei auszugeben. Dieses hat auch in den mehresten Faͤllen seine Richtigkeit. Es kann aber auch Faͤlle geben, wo die Erhabenheit des Gegenstandes eine solche Fuͤlle der Gedanken verursacht, die allen Ausdruck hinter sich laͤßt. Hier entsteht eben dieselbe Erscheinung; der von der Groͤße seines Gegenstandes durchdrungene Geist findet keinen dieser Groͤße angemessenen Ausdruck, er versucht dieses auf verschiedene Arten, ist aber mit keiner derselben voͤllig zufrieden. Dieses wird gemeinhin (da man bloß auf die Erscheinung an sich, nicht aber auf ihre Entstehungsart Ruͤcksicht nimmt) auch Schwaͤrmerei genannt. Aber welcher himmelweite Unterschied ist nicht zwischen diesen beiden Arten? Daß Herrn Aufsaͤtze zu dieser zweiten Art gehoͤren, muß jeder Wahrheitsfreund eingestehn. Genaue Bekanntschaft mit allen philosophischen Systemen, richtige Beurtheilung derselben, und unpartheiische Bemerkung ihrer Maͤngel leuchtet uͤberall hervor. Aber noch uͤber diesem eine tiefe, uͤber allen Ausdruck erhabene Einsicht in die Moͤglichkeit ihrer Vereinigung, der herzlichste Wunsch, diesen Vereinigungspunkt (sowohl zur Erweiterung unsrer Erkenntniß, als zu unsrer moralischen und physischen Vervollkommnung) ausfindig zu machen, und eine edle Einfalt im Vortrage, die ihres gleichen kaum hat. Dergleichen Aufsaͤtze verdienen daher als psychologische Erscheinungen allerdings einen Platz in diesem Magazin. Sie sind aber psychologische Erscheinungen von einer hoͤheren Art, und unterscheiden sich von den andern Erscheinungen von Schwaͤrmerei u.s.w. dadurch, daß anstatt daß diese uns die demuͤthigende Vorstellung von der ObereitsEbbe der menschlichen Natur, jene hingegen die zu unsrer bestaͤndigen Fahrt zur Vervollkommnung guͤnstige Fluth zu Gesicht bringen. —
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4. Schreiben des Herrn Obereit an Herrn S. Maimon*) .
Mein Herr! Gegruͤßet seyn Sie im ewigen Frieden! Ein alter Schweitzer kommt von der Suͤdseite, der brave Pole von der Ostseite Europens, koͤnnen sie zusam-
*) Man ist zu sehr geneigt, eine jede Denkungsart, die sich nicht durch Klarheit, Bestimmtheit und Richtigkeit des Ausdrucks zu erkennen giebt, fuͤr Schwaͤrmerei auszugeben. Dieses hat auch in den mehresten Faͤllen seine Richtigkeit. Es kann aber auch Faͤlle geben, wo die Erhabenheit des Gegenstandes eine solche Fuͤlle der Gedanken verursacht, die allen Ausdruck hinter sich laͤßt. Hier entsteht eben dieselbe Erscheinung; der von der Groͤße seines Gegenstandes durchdrungene Geist findet keinen dieser Groͤße angemessenen Ausdruck, er versucht dieses auf verschiedene Arten, ist aber mit keiner derselben voͤllig zufrieden. Dieses wird gemeinhin (da man bloß auf die Erscheinung an sich, nicht aber auf ihre Entstehungsart Ruͤcksicht nimmt) auch Schwaͤrmerei genannt. Aber welcher himmelweite Unterschied ist nicht zwischen diesen beiden Arten?
Daß Herrn Obereits Aufsaͤtze zu dieser zweiten Art gehoͤren, muß jeder Wahrheitsfreund eingestehn. Genaue Bekanntschaft mit allen philosophischen Systemen, richtige Beurtheilung derselben, und unpartheiische Bemerkung ihrer Maͤngel leuchtet uͤberall hervor. Aber noch uͤber diesem eine tiefe, uͤber allen Ausdruck erhabene Einsicht in die Moͤglichkeit ihrer Vereinigung, der herzlichste Wunsch, diesen Vereinigungspunkt (sowohl zur Erweiterung unsrer Erkenntniß, als zu unsrer moralischen und physischen Vervollkommnung) ausfindig zu machen, und eine edle Einfalt im Vortrage, die ihres gleichen kaum hat.
Dergleichen Aufsaͤtze verdienen daher als psychologische Erscheinungen allerdings einen Platz in diesem Magazin. Sie sind aber psychologische Erscheinungen von einer hoͤheren Art, und unterscheiden sich von den andern Erscheinungen von Schwaͤrmerei u.s.w. dadurch, daß anstatt daß diese uns die demuͤthigende Vorstellung von der Ebbe der menschlichen Natur, jene hingegen die zu unsrer bestaͤndigen Fahrt zur Vervollkommnung guͤnstige Fluth zu Gesicht bringen. —
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
(2015-06-09T11:00:00Z)
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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