Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792.Gründe dafür. 1) Die Seele kann nur als eine Substanz in der Erscheinung gedacht werden, indem der Begrif von Substanz überhaupt nur als Bedingung der Erfahrung seine Realität hat; d.h. so lange die Folge der Seelenerscheinungen ununterbrochen bleibt, muß darinn bei allen Veränderungen etwas Dauerhaftes in der Zeit gedacht werden, wenn die Wahrnehmung dieser Erscheinungen Erfahrung werden soll. Wird hingegen diese Folge unterbrochen, so hört auch die Substanzialität der Seele auf, indem ihr ganzes Daseyn aufhört. Nun aber lehrt uns die beständige Beobachtung, daß die Folge der Seelenerscheinungen zuweilen (im tiefen Schlafe, Ohnmacht u.d.gl.) in der That unterbrochen wird, und obschon die Erscheinungen nach dieser Unterbrechung mit den Erscheinungen vor derselben noch immer verknüpft sind, so muß man doch, wenn man die Art dieser Verknüpfung einsehn will, erst in Gedanken nach psychologischen Gesetzen diese Lücke ausfüllen und die fehlende Erscheinungen interpoliren. Die Substanzialität der Seele ist also in diesem Betracht nicht konstitutiv, sondern als Jdee bloß regulativ. 2) So giebt es offenbar Seelenerscheinungen, die nicht mit andern in eben derselben Seelensubstanz gegründet seyn können. Von dieser Art sind z.B. Vorhersehungen oder Ahndungen, die Gruͤnde dafuͤr. 1) Die Seele kann nur als eine Substanz in der Erscheinung gedacht werden, indem der Begrif von Substanz uͤberhaupt nur als Bedingung der Erfahrung seine Realitaͤt hat; d.h. so lange die Folge der Seelenerscheinungen ununterbrochen bleibt, muß darinn bei allen Veraͤnderungen etwas Dauerhaftes in der Zeit gedacht werden, wenn die Wahrnehmung dieser Erscheinungen Erfahrung werden soll. Wird hingegen diese Folge unterbrochen, so hoͤrt auch die Substanzialitaͤt der Seele auf, indem ihr ganzes Daseyn aufhoͤrt. Nun aber lehrt uns die bestaͤndige Beobachtung, daß die Folge der Seelenerscheinungen zuweilen (im tiefen Schlafe, Ohnmacht u.d.gl.) in der That unterbrochen wird, und obschon die Erscheinungen nach dieser Unterbrechung mit den Erscheinungen vor derselben noch immer verknuͤpft sind, so muß man doch, wenn man die Art dieser Verknuͤpfung einsehn will, erst in Gedanken nach psychologischen Gesetzen diese Luͤcke ausfuͤllen und die fehlende Erscheinungen interpoliren. Die Substanzialitaͤt der Seele ist also in diesem Betracht nicht konstitutiv, sondern als Jdee bloß regulativ. 2) So giebt es offenbar Seelenerscheinungen, die nicht mit andern in eben derselben Seelensubstanz gegruͤndet seyn koͤnnen. Von dieser Art sind z.B. Vorhersehungen oder Ahndungen, die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0025" n="25"/><lb/> <div n="3"> <head>Gruͤnde dafuͤr.</head><lb/> <p>1) Die Seele kann nur als eine <hi rendition="#b">Substanz in der Erscheinung</hi> gedacht werden, indem der Begrif von Substanz uͤberhaupt nur als <hi rendition="#b">Bedingung der Erfahrung</hi> seine Realitaͤt hat; d.h. so lange die Folge der Seelenerscheinungen <hi rendition="#b">ununterbrochen</hi> bleibt, muß darinn bei allen Veraͤnderungen etwas <hi rendition="#b">Dauerhaftes in der Zeit</hi> gedacht werden, wenn die <hi rendition="#b">Wahrnehmung</hi> dieser Erscheinungen <hi rendition="#b">Erfahrung</hi> werden soll. Wird hingegen diese Folge <hi rendition="#b">unterbrochen,</hi> so hoͤrt auch die <hi rendition="#b">Substanzialitaͤt der Seele</hi> auf, indem ihr ganzes <hi rendition="#b">Daseyn</hi> aufhoͤrt. Nun aber lehrt uns die bestaͤndige Beobachtung, daß die Folge der Seelenerscheinungen zuweilen (im tiefen Schlafe, Ohnmacht u.d.gl.) in der That unterbrochen wird, und obschon die Erscheinungen <hi rendition="#b">nach</hi> dieser Unterbrechung mit den Erscheinungen <hi rendition="#b">vor</hi> derselben noch immer verknuͤpft sind, so muß man doch, wenn man die Art dieser Verknuͤpfung einsehn will, erst in Gedanken nach psychologischen Gesetzen diese <hi rendition="#b">Luͤcke ausfuͤllen</hi> und die fehlende Erscheinungen <hi rendition="#b">interpoliren.</hi> Die <hi rendition="#b">Substanzialitaͤt der Seele</hi> ist also in diesem Betracht nicht <hi rendition="#b">konstitutiv,</hi> sondern als Jdee bloß <hi rendition="#b">regulativ.</hi></p> <p>2) So giebt es offenbar Seelenerscheinungen, die nicht mit andern in eben derselben Seelensubstanz gegruͤndet seyn koͤnnen. Von dieser Art sind z.B. <hi rendition="#b">Vorhersehungen</hi> oder <hi rendition="#b">Ahndungen,</hi> die<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [25/0025]
Gruͤnde dafuͤr.
1) Die Seele kann nur als eine Substanz in der Erscheinung gedacht werden, indem der Begrif von Substanz uͤberhaupt nur als Bedingung der Erfahrung seine Realitaͤt hat; d.h. so lange die Folge der Seelenerscheinungen ununterbrochen bleibt, muß darinn bei allen Veraͤnderungen etwas Dauerhaftes in der Zeit gedacht werden, wenn die Wahrnehmung dieser Erscheinungen Erfahrung werden soll. Wird hingegen diese Folge unterbrochen, so hoͤrt auch die Substanzialitaͤt der Seele auf, indem ihr ganzes Daseyn aufhoͤrt. Nun aber lehrt uns die bestaͤndige Beobachtung, daß die Folge der Seelenerscheinungen zuweilen (im tiefen Schlafe, Ohnmacht u.d.gl.) in der That unterbrochen wird, und obschon die Erscheinungen nach dieser Unterbrechung mit den Erscheinungen vor derselben noch immer verknuͤpft sind, so muß man doch, wenn man die Art dieser Verknuͤpfung einsehn will, erst in Gedanken nach psychologischen Gesetzen diese Luͤcke ausfuͤllen und die fehlende Erscheinungen interpoliren. Die Substanzialitaͤt der Seele ist also in diesem Betracht nicht konstitutiv, sondern als Jdee bloß regulativ.
2) So giebt es offenbar Seelenerscheinungen, die nicht mit andern in eben derselben Seelensubstanz gegruͤndet seyn koͤnnen. Von dieser Art sind z.B. Vorhersehungen oder Ahndungen, die
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0903_1792/25>, abgerufen am 16.02.2025. |