Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 2. Berlin, 1792.
Der erste Abend vergieng, Alles war wie gewöhnlich. Den zweiten und dritten Tag aber war sie stiller und mehr in sich gekehrt als gewöhnlich. Die folgenden Tage war ihr Blick schon wild und schielend, und man konnte es ihr ansehen, daß etwas Außerordentliches in ihr vorgehen müßte, doch aber suchte sie durch erkünsteltes Lächeln allen Argwohn zu entfernen, und da man nicht etwas so Schreckliches vermuthete als die Folge zeigte, drang man auch nicht sehr in sie. Donnerstag zeigten sich schon deutliche Spuren von Verwirrung; alle ihre Geschäfte gingen langwierig und verkehrt von Statten. Mit einer Rechnung, die sie ablegen sollte, konnte sie wider Gewohnheit nicht zu Stande kommen: sie wuste nicht wie viel oder wofür sie Auslagen gemacht, und kurz, je näher der prophetische Tag heranrückte, desto kenntlichere Abdrücke von verwirrtem Verstande zeigten sich. Endlich erschien der Sonnabend, und nun war kein Zweifel mehr übrig, daß es wirklich mit dem richtigen Gebrauch ihrer Vernunft zu Ende sei. -- Jn so weit hatte die Wahrsagerin sich also als Wahrsagerin bewiesen, und wenn es sich wirklich so mit allen Prophezeiungen verhält, daß Begebenheiten nicht voraus gesagt wurden, weil sie geschehen sollten, sondern daß sie geschehen, weil sie voraus gesagt worden; so beuge ich mein Haupt
Der erste Abend vergieng, Alles war wie gewoͤhnlich. Den zweiten und dritten Tag aber war sie stiller und mehr in sich gekehrt als gewoͤhnlich. Die folgenden Tage war ihr Blick schon wild und schielend, und man konnte es ihr ansehen, daß etwas Außerordentliches in ihr vorgehen muͤßte, doch aber suchte sie durch erkuͤnsteltes Laͤcheln allen Argwohn zu entfernen, und da man nicht etwas so Schreckliches vermuthete als die Folge zeigte, drang man auch nicht sehr in sie. Donnerstag zeigten sich schon deutliche Spuren von Verwirrung; alle ihre Geschaͤfte gingen langwierig und verkehrt von Statten. Mit einer Rechnung, die sie ablegen sollte, konnte sie wider Gewohnheit nicht zu Stande kommen: sie wuste nicht wie viel oder wofuͤr sie Auslagen gemacht, und kurz, je naͤher der prophetische Tag heranruͤckte, desto kenntlichere Abdruͤcke von verwirrtem Verstande zeigten sich. Endlich erschien der Sonnabend, und nun war kein Zweifel mehr uͤbrig, daß es wirklich mit dem richtigen Gebrauch ihrer Vernunft zu Ende sei. — Jn so weit hatte die Wahrsagerin sich also als Wahrsagerin bewiesen, und wenn es sich wirklich so mit allen Prophezeiungen verhaͤlt, daß Begebenheiten nicht voraus gesagt wurden, weil sie geschehen sollten, sondern daß sie geschehen, weil sie voraus gesagt worden; so beuge ich mein Haupt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0030" n="30"/><lb/> Die Kanidia ward bald zum Hause hinausgewiesen, und so schien Alles ruhig zu sein. —</p> <p>Der erste Abend vergieng, Alles war wie gewoͤhnlich. Den zweiten und dritten Tag aber war sie stiller und mehr in sich gekehrt als gewoͤhnlich. Die folgenden Tage war ihr Blick schon wild und schielend, und man konnte es ihr ansehen, daß etwas Außerordentliches in ihr vorgehen muͤßte, doch aber suchte sie durch erkuͤnsteltes Laͤcheln allen Argwohn zu entfernen, und da man nicht etwas so Schreckliches vermuthete als die Folge zeigte, drang man auch nicht sehr in sie.</p> <p>Donnerstag zeigten sich schon deutliche Spuren von Verwirrung; alle ihre Geschaͤfte gingen langwierig und verkehrt von Statten. Mit einer Rechnung, die sie ablegen sollte, konnte sie wider Gewohnheit nicht zu Stande kommen: sie wuste nicht wie viel oder wofuͤr sie Auslagen gemacht, und kurz, je naͤher der prophetische Tag heranruͤckte, desto kenntlichere Abdruͤcke von verwirrtem Verstande zeigten sich. Endlich erschien der Sonnabend, und nun war kein Zweifel mehr uͤbrig, daß es wirklich mit dem richtigen Gebrauch ihrer Vernunft zu Ende sei. — Jn so weit hatte die Wahrsagerin sich also als Wahrsagerin bewiesen, und wenn es sich wirklich so mit allen Prophezeiungen verhaͤlt, daß Begebenheiten nicht voraus gesagt wurden, weil sie geschehen sollten, sondern daß sie geschehen, weil sie voraus gesagt worden; so beuge ich mein Haupt<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [30/0030]
Die Kanidia ward bald zum Hause hinausgewiesen, und so schien Alles ruhig zu sein. —
Der erste Abend vergieng, Alles war wie gewoͤhnlich. Den zweiten und dritten Tag aber war sie stiller und mehr in sich gekehrt als gewoͤhnlich. Die folgenden Tage war ihr Blick schon wild und schielend, und man konnte es ihr ansehen, daß etwas Außerordentliches in ihr vorgehen muͤßte, doch aber suchte sie durch erkuͤnsteltes Laͤcheln allen Argwohn zu entfernen, und da man nicht etwas so Schreckliches vermuthete als die Folge zeigte, drang man auch nicht sehr in sie.
Donnerstag zeigten sich schon deutliche Spuren von Verwirrung; alle ihre Geschaͤfte gingen langwierig und verkehrt von Statten. Mit einer Rechnung, die sie ablegen sollte, konnte sie wider Gewohnheit nicht zu Stande kommen: sie wuste nicht wie viel oder wofuͤr sie Auslagen gemacht, und kurz, je naͤher der prophetische Tag heranruͤckte, desto kenntlichere Abdruͤcke von verwirrtem Verstande zeigten sich. Endlich erschien der Sonnabend, und nun war kein Zweifel mehr uͤbrig, daß es wirklich mit dem richtigen Gebrauch ihrer Vernunft zu Ende sei. — Jn so weit hatte die Wahrsagerin sich also als Wahrsagerin bewiesen, und wenn es sich wirklich so mit allen Prophezeiungen verhaͤlt, daß Begebenheiten nicht voraus gesagt wurden, weil sie geschehen sollten, sondern daß sie geschehen, weil sie voraus gesagt worden; so beuge ich mein Haupt
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