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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 2. Berlin, 1792.

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allem Vortrag, Schritt vor Schritt, beobachtet, alle neuen Unterscheidungen und Entwickelungen genau bemerkt, den natürlichen Zusammenhang durchaus richtig gefunden,*)und wo er Bedenklichkeiten

*) Den natürlichen Zusammenhang im Reinholdischen Fundament des philosophischen Wissens, wie auch in seiner Theorie des Vorstellungsvermögens und den gedachten Beiträgen, muß jeder unpartheiische Selbstdenker richtig finden; und, wie ich dafür halte, so hat diese Theorie, in Ansehung ihrer systematischen Form, die höchste Vollkommenheit, die irgend eine Theorie erreichen kann, und das ihr zum Grunde liegende System kann als Muster eines vollkommenen Systems aufgestellt werden. Von der andern Seite betrachtet aber, glaube ich erstlich, daß nur die Philosophie (nach H. Reinholds Erklärung) eines solchen Systems fähig sey, und eine jede andre Wissenschaft sich demselben nur immer nähern kann, ohne es völlig erreichen zu können. Zweitens fehlt es dieser Theorie in der Philosophie selbst an der materiellen Gewißheit. Herr Kant legt seinem kritischen System Erfahrung, als unbezweifeltes Faktum, zum Grunde, woraus er hypothetisch die Realität der Grundbegriffe und Sätze a priori beweist. Nun hat aber der kritische Skeptiker allerdings Recht, das Faktum selbst (daß wir Erfahrungssätze haben, die objektive Nothwendigkeit und Allgemeingültigkeit ausdrücken) in Zweifel zu ziehn, und folglich auch die darauf gegründete Realität gedachter Prinzipien selbst. Herr Reinhold legt seinem System den Satz des Bewußtseyns als Thatsache zum Grunde, nehmlich: Jm Bewußtseyn wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen. Dieser Satz kann nicht vom Bewußtseyn überhaupt (auch einer Wahrnehmung), sondern blos vom Bewußtseyn einer Vorstellung (einer auf eine Synthesis, als Merkmal aufs Objekt sich beziehende Wahrnehmung) gelten. Eine bloße Wahrnehmung, ehe sie in irgend eine Synthesis gebracht wird, bezieht sich auf nichts außer sich selbst, und nur dadurch, daß sie als Bestandtheil einer Synthesis gedacht worden ist, bezieht sie sich auf dieselbe, als eine Vorstellung auf das dadurch Vorgestellte. Sie kann sich auch auf das Ding an sich, d.h. nicht blos auf die wirkliche (das Vorgestellte), sondern auf eine mögliche Synthesis überhaupt (das Kantische x) beziehen, weil in dem Begriffe einer bestimmten Synthesis der Begrif einer Synthesis überhaupt nothwendig enthalten seyn muß. Dieses alles kann aber nicht vom Bewußtseyn einer Wahrnehmung gelten, folglich ist gedachter Satz nicht allgemein. S. M.


allem Vortrag, Schritt vor Schritt, beobachtet, alle neuen Unterscheidungen und Entwickelungen genau bemerkt, den natuͤrlichen Zusammenhang durchaus richtig gefunden,*)und wo er Bedenklichkeiten

*) Den natuͤrlichen Zusammenhang im Reinholdischen Fundament des philosophischen Wissens, wie auch in seiner Theorie des Vorstellungsvermoͤgens und den gedachten Beitraͤgen, muß jeder unpartheiische Selbstdenker richtig finden; und, wie ich dafuͤr halte, so hat diese Theorie, in Ansehung ihrer systematischen Form, die hoͤchste Vollkommenheit, die irgend eine Theorie erreichen kann, und das ihr zum Grunde liegende System kann als Muster eines vollkommenen Systems aufgestellt werden. Von der andern Seite betrachtet aber, glaube ich erstlich, daß nur die Philosophie (nach H. Reinholds Erklaͤrung) eines solchen Systems faͤhig sey, und eine jede andre Wissenschaft sich demselben nur immer naͤhern kann, ohne es voͤllig erreichen zu koͤnnen. Zweitens fehlt es dieser Theorie in der Philosophie selbst an der materiellen Gewißheit. Herr Kant legt seinem kritischen System Erfahrung, als unbezweifeltes Faktum, zum Grunde, woraus er hypothetisch die Realitaͤt der Grundbegriffe und Saͤtze a priori beweist. Nun hat aber der kritische Skeptiker allerdings Recht, das Faktum selbst (daß wir Erfahrungssaͤtze haben, die objektive Nothwendigkeit und Allgemeinguͤltigkeit ausdruͤcken) in Zweifel zu ziehn, und folglich auch die darauf gegruͤndete Realitaͤt gedachter Prinzipien selbst. Herr Reinhold legt seinem System den Satz des Bewußtseyns als Thatsache zum Grunde, nehmlich: Jm Bewußtseyn wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen. Dieser Satz kann nicht vom Bewußtseyn uͤberhaupt (auch einer Wahrnehmung), sondern blos vom Bewußtseyn einer Vorstellung (einer auf eine Synthesis, als Merkmal aufs Objekt sich beziehende Wahrnehmung) gelten. Eine bloße Wahrnehmung, ehe sie in irgend eine Synthesis gebracht wird, bezieht sich auf nichts außer sich selbst, und nur dadurch, daß sie als Bestandtheil einer Synthesis gedacht worden ist, bezieht sie sich auf dieselbe, als eine Vorstellung auf das dadurch Vorgestellte. Sie kann sich auch auf das Ding an sich, d.h. nicht blos auf die wirkliche (das Vorgestellte), sondern auf eine moͤgliche Synthesis uͤberhaupt (das Kantische x) beziehen, weil in dem Begriffe einer bestimmten Synthesis der Begrif einer Synthesis uͤberhaupt nothwendig enthalten seyn muß. Dieses alles kann aber nicht vom Bewußtseyn einer Wahrnehmung gelten, folglich ist gedachter Satz nicht allgemein. S. M.
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[108/0108] allem Vortrag, Schritt vor Schritt, beobachtet, alle neuen Unterscheidungen und Entwickelungen genau bemerkt, den natuͤrlichen Zusammenhang durchaus richtig gefunden,*) und wo er Bedenklichkeiten *) Den natuͤrlichen Zusammenhang im Reinholdischen Fundament des philosophischen Wissens, wie auch in seiner Theorie des Vorstellungsvermoͤgens und den gedachten Beitraͤgen, muß jeder unpartheiische Selbstdenker richtig finden; und, wie ich dafuͤr halte, so hat diese Theorie, in Ansehung ihrer systematischen Form, die hoͤchste Vollkommenheit, die irgend eine Theorie erreichen kann, und das ihr zum Grunde liegende System kann als Muster eines vollkommenen Systems aufgestellt werden. Von der andern Seite betrachtet aber, glaube ich erstlich, daß nur die Philosophie (nach H. Reinholds Erklaͤrung) eines solchen Systems faͤhig sey, und eine jede andre Wissenschaft sich demselben nur immer naͤhern kann, ohne es voͤllig erreichen zu koͤnnen. Zweitens fehlt es dieser Theorie in der Philosophie selbst an der materiellen Gewißheit. Herr Kant legt seinem kritischen System Erfahrung, als unbezweifeltes Faktum, zum Grunde, woraus er hypothetisch die Realitaͤt der Grundbegriffe und Saͤtze a priori beweist. Nun hat aber der kritische Skeptiker allerdings Recht, das Faktum selbst (daß wir Erfahrungssaͤtze haben, die objektive Nothwendigkeit und Allgemeinguͤltigkeit ausdruͤcken) in Zweifel zu ziehn, und folglich auch die darauf gegruͤndete Realitaͤt gedachter Prinzipien selbst. Herr Reinhold legt seinem System den Satz des Bewußtseyns als Thatsache zum Grunde, nehmlich: Jm Bewußtseyn wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen. Dieser Satz kann nicht vom Bewußtseyn uͤberhaupt (auch einer Wahrnehmung), sondern blos vom Bewußtseyn einer Vorstellung (einer auf eine Synthesis, als Merkmal aufs Objekt sich beziehende Wahrnehmung) gelten. Eine bloße Wahrnehmung, ehe sie in irgend eine Synthesis gebracht wird, bezieht sich auf nichts außer sich selbst, und nur dadurch, daß sie als Bestandtheil einer Synthesis gedacht worden ist, bezieht sie sich auf dieselbe, als eine Vorstellung auf das dadurch Vorgestellte. Sie kann sich auch auf das Ding an sich, d.h. nicht blos auf die wirkliche (das Vorgestellte), sondern auf eine moͤgliche Synthesis uͤberhaupt (das Kantische x) beziehen, weil in dem Begriffe einer bestimmten Synthesis der Begrif einer Synthesis uͤberhaupt nothwendig enthalten seyn muß. Dieses alles kann aber nicht vom Bewußtseyn einer Wahrnehmung gelten, folglich ist gedachter Satz nicht allgemein. S. M.

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 2. Berlin, 1792, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0902_1792/108>, abgerufen am 24.11.2024.