Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 1. Berlin, 1792.
Eine angehende Leidenschaft kann durch Vernunftgründe, und Vorstellung ihrer Schädlichkeit, ohngefähr wie eine Krankheit des Körpers in den primis viis durch Abführungsmittel gehoben werden. Eine eingewurzelte Krankheit hingegen erfordert erst eine weitläuftige Preparation dazu. Es kömmt hier nicht so sehr auf Theorie, als auf praktische Beurtheilung an. Es gehört dazu viele Erfahrung und Menschenkenntniß, und ein hoher Grad von Geduld. Man muß mit dem Kranken verschiedene Proben machen, und sich durch einen mißlungnen Erfolg nicht abschrecken lassen. Freilich müssen dergleichen Versuche nicht gänzlich aufs Gerathewohl angestellt werden. Sie müssen durch eine Theorie, diese mag noch so unvollkommen seyn, geleitet werden. Bakon sagt: "Derjenige, der etwas sucht, pflegt, das was er sucht, unter einer allgemeinen Jdee zu begreifen, weil derselbe sonst solches, wenn er es entdeckt hat, ja nicht erkennen könnte. Je vollkommner und richtiger aber unsere vorgefaßte Jdee ist, desto zweckmäßiger und kürzer wird auch
Eine angehende Leidenschaft kann durch Vernunftgruͤnde, und Vorstellung ihrer Schaͤdlichkeit, ohngefaͤhr wie eine Krankheit des Koͤrpers in den primis viis durch Abfuͤhrungsmittel gehoben werden. Eine eingewurzelte Krankheit hingegen erfordert erst eine weitlaͤuftige Preparation dazu. Es koͤmmt hier nicht so sehr auf Theorie, als auf praktische Beurtheilung an. Es gehoͤrt dazu viele Erfahrung und Menschenkenntniß, und ein hoher Grad von Geduld. Man muß mit dem Kranken verschiedene Proben machen, und sich durch einen mißlungnen Erfolg nicht abschrecken lassen. Freilich muͤssen dergleichen Versuche nicht gaͤnzlich aufs Gerathewohl angestellt werden. Sie muͤssen durch eine Theorie, diese mag noch so unvollkommen seyn, geleitet werden. Bakon sagt: »Derjenige, der etwas sucht, pflegt, das was er sucht, unter einer allgemeinen Jdee zu begreifen, weil derselbe sonst solches, wenn er es entdeckt hat, ja nicht erkennen koͤnnte. Je vollkommner und richtiger aber unsere vorgefaßte Jdee ist, desto zweckmaͤßiger und kuͤrzer wird auch <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0022" n="20"/><lb/> sorgen, daß ehe diese langwierige methodische Kurart ihre Wuͤrkung aͤußern werde, der Kranke sich selbst oder andern unheilbaren Schaden zufuͤgen koͤnne, so muß man zur bessren Sicherheit denselben ins Tollhaus schicken und an Ketten schmieden lassen.</p> <p>Eine <hi rendition="#b">angehende Leidenschaft</hi> kann durch Vernunftgruͤnde, und Vorstellung ihrer Schaͤdlichkeit, ohngefaͤhr wie eine Krankheit des Koͤrpers in den <hi rendition="#aq">primis viis</hi> durch Abfuͤhrungsmittel gehoben werden. Eine <hi rendition="#b">eingewurzelte Krankheit</hi> hingegen erfordert erst eine weitlaͤuftige Preparation dazu.</p> <p>Es koͤmmt hier nicht so sehr auf Theorie, als auf praktische Beurtheilung an. Es gehoͤrt dazu viele <hi rendition="#b">Erfahrung</hi> und <hi rendition="#b">Menschenkenntniß,</hi> und ein hoher Grad von <hi rendition="#b">Geduld.</hi> Man muß mit dem Kranken verschiedene Proben machen, und sich durch einen mißlungnen Erfolg nicht abschrecken lassen. Freilich muͤssen dergleichen Versuche nicht gaͤnzlich <hi rendition="#b">aufs Gerathewohl </hi> angestellt werden. Sie muͤssen <hi rendition="#b">durch eine Theorie,</hi> diese mag noch so unvollkommen seyn, geleitet werden.</p> <p><hi rendition="#b">Bakon</hi> sagt: »Derjenige, der etwas sucht, pflegt, das was er sucht, unter einer allgemeinen Jdee zu begreifen, weil derselbe sonst solches, wenn er es entdeckt hat, ja nicht erkennen koͤnnte. Je vollkommner und richtiger aber unsere vorgefaßte Jdee ist, desto zweckmaͤßiger und kuͤrzer wird auch<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [20/0022]
sorgen, daß ehe diese langwierige methodische Kurart ihre Wuͤrkung aͤußern werde, der Kranke sich selbst oder andern unheilbaren Schaden zufuͤgen koͤnne, so muß man zur bessren Sicherheit denselben ins Tollhaus schicken und an Ketten schmieden lassen.
Eine angehende Leidenschaft kann durch Vernunftgruͤnde, und Vorstellung ihrer Schaͤdlichkeit, ohngefaͤhr wie eine Krankheit des Koͤrpers in den primis viis durch Abfuͤhrungsmittel gehoben werden. Eine eingewurzelte Krankheit hingegen erfordert erst eine weitlaͤuftige Preparation dazu.
Es koͤmmt hier nicht so sehr auf Theorie, als auf praktische Beurtheilung an. Es gehoͤrt dazu viele Erfahrung und Menschenkenntniß, und ein hoher Grad von Geduld. Man muß mit dem Kranken verschiedene Proben machen, und sich durch einen mißlungnen Erfolg nicht abschrecken lassen. Freilich muͤssen dergleichen Versuche nicht gaͤnzlich aufs Gerathewohl angestellt werden. Sie muͤssen durch eine Theorie, diese mag noch so unvollkommen seyn, geleitet werden.
Bakon sagt: »Derjenige, der etwas sucht, pflegt, das was er sucht, unter einer allgemeinen Jdee zu begreifen, weil derselbe sonst solches, wenn er es entdeckt hat, ja nicht erkennen koͤnnte. Je vollkommner und richtiger aber unsere vorgefaßte Jdee ist, desto zweckmaͤßiger und kuͤrzer wird auch
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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