Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791.
Heilige, mit frommem, kaltem Herzen, Gehn vorüber, und verdammen dich! Jch allein, ich fühle deine Schmerzen, Theures Opfer, und beweine dich! Werde weinen noch am letzten Tage, Wenn der Richter unsre Thaten wiegt! u.s.w. Ein großes Genie hat diese ungemein schöne Stelle der armen Lotte angedichtet, wie sie einer Person gegen über sitzt, die im Grunde nur aus Enthusiasmus, d.h. aus Schwärmerei und einer großen Schwäche, zusammengesetzt war. Hr. Glave hat es bereits gesagt: Clooß war ein ganz anderer Mensch, hatte weit edlere Bewegungsgründe als Werther. S. 46-76. Mein verewigter Freund Mendelssohn war ein gelassener Denker, und handelte mit Wärme. Sobald die Reihe wieder an das Denken kam, nahm er auch seine alte Gelassenheit wieder an. Jch kann ihn nicht würdiger, und nicht mit mehr Wahrheit loben; und ich würde ihn entehren, wenn ich diesem Muster so unähnlich seyn, wenn ich ihn mit Enthusiasmus loben wollte. Glücklich, wem der günstige Zufall ward, daß er ihm mit Eifer, mit Wärme dienen konnte. Wer ihn loben will, darf nur richtig urtheilen; und man urtheilet gewiß desto richtiger, je gelassener
Heilige, mit frommem, kaltem Herzen, Gehn voruͤber, und verdammen dich! Jch allein, ich fuͤhle deine Schmerzen, Theures Opfer, und beweine dich! Werde weinen noch am letzten Tage, Wenn der Richter unsre Thaten wiegt! u.s.w. Ein großes Genie hat diese ungemein schoͤne Stelle der armen Lotte angedichtet, wie sie einer Person gegen uͤber sitzt, die im Grunde nur aus Enthusiasmus, d.h. aus Schwaͤrmerei und einer großen Schwaͤche, zusammengesetzt war. Hr. Glave hat es bereits gesagt: Clooß war ein ganz anderer Mensch, hatte weit edlere Bewegungsgruͤnde als Werther. S. 46-76. Mein verewigter Freund Mendelssohn war ein gelassener Denker, und handelte mit Waͤrme. Sobald die Reihe wieder an das Denken kam, nahm er auch seine alte Gelassenheit wieder an. Jch kann ihn nicht wuͤrdiger, und nicht mit mehr Wahrheit loben; und ich wuͤrde ihn entehren, wenn ich diesem Muster so unaͤhnlich seyn, wenn ich ihn mit Enthusiasmus loben wollte. Gluͤcklich, wem der guͤnstige Zufall ward, daß er ihm mit Eifer, mit Waͤrme dienen konnte. Wer ihn loben will, darf nur richtig urtheilen; und man urtheilet gewiß desto richtiger, je gelassener <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0095" n="95"/><lb/> buͤcken, wenn sie ein vollkommnes Wesen, einen Menschen wie diesen <hi rendition="#b">Clooß</hi> richten hoͤren! </p> <lg> <l>Heilige, mit frommem, kaltem Herzen, </l> <l>Gehn voruͤber, und verdammen dich! </l> <l>Jch allein, ich fuͤhle deine Schmerzen, </l> <l>Theures Opfer, und beweine dich! </l> <l>Werde weinen noch am letzten Tage, </l> <l>Wenn der Richter unsre Thaten wiegt!</l> </lg> <p rendition="#right">u.s.w.</p> <p>Ein großes Genie hat diese ungemein schoͤne Stelle der armen Lotte angedichtet, wie sie einer Person gegen uͤber sitzt, die im Grunde <choice><corr>nur</corr><sic>uur</sic></choice> aus Enthusiasmus, d.h. aus <hi rendition="#b">Schwaͤrmerei</hi> und einer großen Schwaͤche, zusammengesetzt war. Hr. <hi rendition="#b">Glave</hi> hat es bereits gesagt: <hi rendition="#b">Clooß</hi> war ein ganz anderer Mensch, hatte weit edlere Bewegungsgruͤnde als Werther. </p> <p>S. 46-76. Mein verewigter Freund <hi rendition="#b">Mendelssohn</hi> war ein <hi rendition="#b">gelassener Denker,</hi> und <hi rendition="#b">handelte mit Waͤrme.</hi> Sobald die Reihe wieder an das Denken kam, nahm er auch seine alte Gelassenheit wieder an. Jch kann ihn nicht <hi rendition="#b">wuͤrdiger,</hi> und nicht mit mehr <hi rendition="#b">Wahrheit</hi> loben; und ich wuͤrde ihn entehren, wenn ich diesem Muster so unaͤhnlich seyn, wenn ich ihn mit <hi rendition="#b">Enthusiasmus</hi> loben wollte. Gluͤcklich, wem der guͤnstige Zufall ward, daß er ihm mit Eifer, mit <hi rendition="#b">Waͤrme dienen</hi> konnte. Wer ihn <hi rendition="#b">loben</hi> will, darf nur richtig urtheilen; und man urtheilet gewiß desto richtiger, je gelassener<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [95/0095]
buͤcken, wenn sie ein vollkommnes Wesen, einen Menschen wie diesen Clooß richten hoͤren!
Heilige, mit frommem, kaltem Herzen, Gehn voruͤber, und verdammen dich! Jch allein, ich fuͤhle deine Schmerzen, Theures Opfer, und beweine dich! Werde weinen noch am letzten Tage, Wenn der Richter unsre Thaten wiegt!
u.s.w.
Ein großes Genie hat diese ungemein schoͤne Stelle der armen Lotte angedichtet, wie sie einer Person gegen uͤber sitzt, die im Grunde nur aus Enthusiasmus, d.h. aus Schwaͤrmerei und einer großen Schwaͤche, zusammengesetzt war. Hr. Glave hat es bereits gesagt: Clooß war ein ganz anderer Mensch, hatte weit edlere Bewegungsgruͤnde als Werther.
S. 46-76. Mein verewigter Freund Mendelssohn war ein gelassener Denker, und handelte mit Waͤrme. Sobald die Reihe wieder an das Denken kam, nahm er auch seine alte Gelassenheit wieder an. Jch kann ihn nicht wuͤrdiger, und nicht mit mehr Wahrheit loben; und ich wuͤrde ihn entehren, wenn ich diesem Muster so unaͤhnlich seyn, wenn ich ihn mit Enthusiasmus loben wollte. Gluͤcklich, wem der guͤnstige Zufall ward, daß er ihm mit Eifer, mit Waͤrme dienen konnte. Wer ihn loben will, darf nur richtig urtheilen; und man urtheilet gewiß desto richtiger, je gelassener
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0803_1791/95>, abgerufen am 26.07.2024. |