Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791.S. 100.f. Jch will einmal eine ganz ausserordentliche Frage, im Betreff der ersten hier erzählten Erfahrung machen: giebt es wohl einen einzigen Menschen -- wenn er auch nur in sehr geringem Grade dem Schwindel unterworfen ist -- dem nicht diese Jdee mehr oder weniger in den Sinn käme, wenn er sehr aufmerksam darauf ist, und sich in der gegebenen Lage befindet? Die Seele hat eine äusserst seltsame Neigung sich alle möglichen Dinge vorzustellen und sie zu versuchen; und je entfernter die Möglichkeit ist, je vernünftiger die Gründe sind, welche sich der Ausführung entgegenstellen, (wie in dem gegenwärtigen Beispiele, die Gefahr den Hals zu brechen), je mehr der Körper widerstrebt, desto stärker fühlt sich die Seele angezogen. Ohne vollwichtige und siegende Bewegungsgründe, zu welchen man die durch Gewohnheit entstandene Ueberzeugung von der absoluten Unmöglichkeit der Sache, rechnen muß, würden wir, vermöge dieser allgemeinen Neigung, alles mögliche versuchen. Ein Kind streckt die Arme aus, um den Mond zu ergreifen, und eben diese Neigung hat die Erfindung der Schiffahrt, das Schwimmen, das Seiltanzen u.s.w. veranlaßt. Würde es sonst noch Menschen geben, welche gerne ein Universalmittel, die Quadratur des Zirkels u.s.w. erfinden wollen? S. 110. ff. Ein vortrefliches Stück in Plan und Ausführung. Man kann diesen geschickten und S. 100.f. Jch will einmal eine ganz ausserordentliche Frage, im Betreff der ersten hier erzaͤhlten Erfahrung machen: giebt es wohl einen einzigen Menschen — wenn er auch nur in sehr geringem Grade dem Schwindel unterworfen ist — dem nicht diese Jdee mehr oder weniger in den Sinn kaͤme, wenn er sehr aufmerksam darauf ist, und sich in der gegebenen Lage befindet? Die Seele hat eine aͤusserst seltsame Neigung sich alle moͤglichen Dinge vorzustellen und sie zu versuchen; und je entfernter die Moͤglichkeit ist, je vernuͤnftiger die Gruͤnde sind, welche sich der Ausfuͤhrung entgegenstellen, (wie in dem gegenwaͤrtigen Beispiele, die Gefahr den Hals zu brechen), je mehr der Koͤrper widerstrebt, desto staͤrker fuͤhlt sich die Seele angezogen. Ohne vollwichtige und siegende Bewegungsgruͤnde, zu welchen man die durch Gewohnheit entstandene Ueberzeugung von der absoluten Unmoͤglichkeit der Sache, rechnen muß, wuͤrden wir, vermoͤge dieser allgemeinen Neigung, alles moͤgliche versuchen. Ein Kind streckt die Arme aus, um den Mond zu ergreifen, und eben diese Neigung hat die Erfindung der Schiffahrt, das Schwimmen, das Seiltanzen u.s.w. veranlaßt. Wuͤrde es sonst noch Menschen geben, welche gerne ein Universalmittel, die Quadratur des Zirkels u.s.w. erfinden wollen? S. 110. ff. Ein vortrefliches Stuͤck in Plan und Ausfuͤhrung. Man kann diesen geschickten und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0084" n="84"/><lb/> <p>S. 100.f. Jch will einmal eine ganz ausserordentliche Frage, im Betreff der ersten hier erzaͤhlten Erfahrung machen: giebt es wohl einen einzigen Menschen — wenn er auch nur in sehr geringem Grade dem Schwindel unterworfen ist — dem nicht diese Jdee <hi rendition="#b">mehr oder weniger</hi> in den Sinn kaͤme, wenn er sehr aufmerksam darauf ist, und sich in der gegebenen Lage befindet? Die Seele hat eine aͤusserst seltsame Neigung sich alle moͤglichen Dinge vorzustellen und sie zu versuchen; und je entfernter die Moͤglichkeit ist, je vernuͤnftiger die Gruͤnde sind, welche sich der Ausfuͤhrung entgegenstellen, (wie in dem gegenwaͤrtigen Beispiele, die Gefahr den Hals zu brechen), je mehr der Koͤrper widerstrebt, desto staͤrker fuͤhlt sich die Seele angezogen. </p> <p>Ohne vollwichtige und siegende Bewegungsgruͤnde, zu welchen man die durch Gewohnheit entstandene Ueberzeugung von der absoluten Unmoͤglichkeit der Sache, rechnen muß, wuͤrden wir, vermoͤge dieser allgemeinen Neigung, <hi rendition="#b">alles moͤgliche</hi> versuchen. Ein Kind streckt die Arme aus, um den Mond zu ergreifen, und eben diese Neigung hat die Erfindung der Schiffahrt, das Schwimmen, das Seiltanzen u.s.w. veranlaßt. Wuͤrde es sonst noch Menschen geben, welche gerne ein Universalmittel, die Quadratur des Zirkels u.s.w. erfinden wollen? </p> <p>S. 110. ff. Ein vortrefliches Stuͤck in Plan und Ausfuͤhrung. Man kann diesen geschickten und<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [84/0084]
S. 100.f. Jch will einmal eine ganz ausserordentliche Frage, im Betreff der ersten hier erzaͤhlten Erfahrung machen: giebt es wohl einen einzigen Menschen — wenn er auch nur in sehr geringem Grade dem Schwindel unterworfen ist — dem nicht diese Jdee mehr oder weniger in den Sinn kaͤme, wenn er sehr aufmerksam darauf ist, und sich in der gegebenen Lage befindet? Die Seele hat eine aͤusserst seltsame Neigung sich alle moͤglichen Dinge vorzustellen und sie zu versuchen; und je entfernter die Moͤglichkeit ist, je vernuͤnftiger die Gruͤnde sind, welche sich der Ausfuͤhrung entgegenstellen, (wie in dem gegenwaͤrtigen Beispiele, die Gefahr den Hals zu brechen), je mehr der Koͤrper widerstrebt, desto staͤrker fuͤhlt sich die Seele angezogen.
Ohne vollwichtige und siegende Bewegungsgruͤnde, zu welchen man die durch Gewohnheit entstandene Ueberzeugung von der absoluten Unmoͤglichkeit der Sache, rechnen muß, wuͤrden wir, vermoͤge dieser allgemeinen Neigung, alles moͤgliche versuchen. Ein Kind streckt die Arme aus, um den Mond zu ergreifen, und eben diese Neigung hat die Erfindung der Schiffahrt, das Schwimmen, das Seiltanzen u.s.w. veranlaßt. Wuͤrde es sonst noch Menschen geben, welche gerne ein Universalmittel, die Quadratur des Zirkels u.s.w. erfinden wollen?
S. 110. ff. Ein vortrefliches Stuͤck in Plan und Ausfuͤhrung. Man kann diesen geschickten und
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0803_1791/84>, abgerufen am 25.07.2024. |