Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791.
2) Wenn man den Versuch macht Wahnsinnige lesen zu lassen, so gehet es ihnen wie beim Schreiben. Sie lesen einige Worte, und den folgenden Zeilen schieben sie andere unter, die an der unrechten Stelle stehen, und keinen Sinn geben. Ganz so wie die Quittung des Herrn Spalding, wie der Wechsel meines Banquier's, und endlich wie die Reden der M. Hennert und der Arbeiter zu Babel. 3) Eine Menge Erfahrungen, welche ich selbst hierüber zu machen das Glück gehabt habe, berechtigen mich zu der Meinung, daß es uns immer so gehet, wenn wir im Traume lesen, oder lesen hören. Jch sage: das Glück; denn nur selten und durch einen glücklichen Zufall erwacht man aus dergleichen Träumen so sanft, daß man sich der Worte, welche man im Traume gelesen, erinnern kann. Jst der Zufall nicht günstig, so wird man sich sein ganzes Leben hindurch in Absicht dieser Träume trügen. Denn während dem Traume ist man mit der Lektüre sehr wohl zufrieden; man ist von dem Zusammenhange vollkommen überzeugt; man findet sogar Schönheiten, z.B. wenn es Verse sind. Fünf und dreißig Jahre lang habe ich viel solche Träume für wirklich gehalten, vorzüglich wenn ich im Traume Briefe empfing, die ich durch und durch mit dem größten Jnteresse las. Endlich wieder-
2) Wenn man den Versuch macht Wahnsinnige lesen zu lassen, so gehet es ihnen wie beim Schreiben. Sie lesen einige Worte, und den folgenden Zeilen schieben sie andere unter, die an der unrechten Stelle stehen, und keinen Sinn geben. Ganz so wie die Quittung des Herrn Spalding, wie der Wechsel meines Banquier's, und endlich wie die Reden der M. Hennert und der Arbeiter zu Babel. 3) Eine Menge Erfahrungen, welche ich selbst hieruͤber zu machen das Gluͤck gehabt habe, berechtigen mich zu der Meinung, daß es uns immer so gehet, wenn wir im Traume lesen, oder lesen hoͤren. Jch sage: das Gluͤck; denn nur selten und durch einen gluͤcklichen Zufall erwacht man aus dergleichen Traͤumen so sanft, daß man sich der Worte, welche man im Traume gelesen, erinnern kann. Jst der Zufall nicht guͤnstig, so wird man sich sein ganzes Leben hindurch in Absicht dieser Traͤume truͤgen. Denn waͤhrend dem Traume ist man mit der Lektuͤre sehr wohl zufrieden; man ist von dem Zusammenhange vollkommen uͤberzeugt; man findet sogar Schoͤnheiten, z.B. wenn es Verse sind. Fuͤnf und dreißig Jahre lang habe ich viel solche Traͤume fuͤr wirklich gehalten, vorzuͤglich wenn ich im Traume Briefe empfing, die ich durch und durch mit dem groͤßten Jnteresse las. Endlich wieder- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0080" n="80"/><lb/> mich, daß diese Bemerkung den Herrn Herausgebern entgangen ist. </p> <p>2) Wenn man den Versuch macht Wahnsinnige lesen zu lassen, so gehet es ihnen wie beim Schreiben. Sie lesen einige Worte, und den folgenden Zeilen schieben sie andere unter, die an der unrechten Stelle stehen, und keinen Sinn geben. Ganz so wie die Quittung des Herrn Spalding, wie der Wechsel meines Banquier's, und endlich wie die Reden der M. Hennert und der Arbeiter zu Babel. </p> <p>3) Eine Menge Erfahrungen, welche ich selbst hieruͤber zu machen das Gluͤck gehabt habe, berechtigen mich zu der Meinung, daß es uns immer so gehet, wenn wir im Traume lesen, oder lesen hoͤren. Jch sage: das <hi rendition="#b">Gluͤck;</hi> denn nur selten und durch einen <hi rendition="#b">gluͤcklichen</hi> Zufall erwacht man aus dergleichen Traͤumen so sanft, daß man sich der Worte, welche man im Traume gelesen, erinnern kann. Jst der Zufall nicht guͤnstig, so wird man sich sein ganzes Leben hindurch in Absicht dieser Traͤume truͤgen. Denn waͤhrend dem Traume ist man mit der Lektuͤre sehr wohl zufrieden; man ist von dem Zusammenhange vollkommen uͤberzeugt; man findet sogar Schoͤnheiten, z.B. wenn es Verse sind. </p> <p>Fuͤnf und dreißig Jahre lang habe ich viel solche Traͤume fuͤr wirklich gehalten, vorzuͤglich wenn ich im Traume Briefe empfing, die ich durch und durch mit dem groͤßten Jnteresse las. Endlich wieder-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [80/0080]
mich, daß diese Bemerkung den Herrn Herausgebern entgangen ist.
2) Wenn man den Versuch macht Wahnsinnige lesen zu lassen, so gehet es ihnen wie beim Schreiben. Sie lesen einige Worte, und den folgenden Zeilen schieben sie andere unter, die an der unrechten Stelle stehen, und keinen Sinn geben. Ganz so wie die Quittung des Herrn Spalding, wie der Wechsel meines Banquier's, und endlich wie die Reden der M. Hennert und der Arbeiter zu Babel.
3) Eine Menge Erfahrungen, welche ich selbst hieruͤber zu machen das Gluͤck gehabt habe, berechtigen mich zu der Meinung, daß es uns immer so gehet, wenn wir im Traume lesen, oder lesen hoͤren. Jch sage: das Gluͤck; denn nur selten und durch einen gluͤcklichen Zufall erwacht man aus dergleichen Traͤumen so sanft, daß man sich der Worte, welche man im Traume gelesen, erinnern kann. Jst der Zufall nicht guͤnstig, so wird man sich sein ganzes Leben hindurch in Absicht dieser Traͤume truͤgen. Denn waͤhrend dem Traume ist man mit der Lektuͤre sehr wohl zufrieden; man ist von dem Zusammenhange vollkommen uͤberzeugt; man findet sogar Schoͤnheiten, z.B. wenn es Verse sind.
Fuͤnf und dreißig Jahre lang habe ich viel solche Traͤume fuͤr wirklich gehalten, vorzuͤglich wenn ich im Traume Briefe empfing, die ich durch und durch mit dem groͤßten Jnteresse las. Endlich wieder-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0803_1791/80>, abgerufen am 24.07.2024. |