Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 2. Berlin, 1791.Jn diesem Betrachte könnte man eine solche Seele wohl eine kranke Seele nennen. Und ihre Krankheit muß in dem Maße zunehmen, in welchem sie so zu sagen verzärtelt wird. Sie beschränkt sich dann immermehr bloß auf den gegenwärtigen Moment, sie betrachtet das Leben nicht im Ganzen und Zusammenhange, sie trennt den gegenwärtigen Augenblick von dem vorhergehenden und folgenden. So bald sie aber nur von außen durch etwas gereitzt oder gedrückt, und dadurch veranlaßt wird, über den gegenwärtigen Augenblick hinauszudenken, so muß sie, um so viel sie dadurch aus ihrer gewohnten Ruhe und Trägheit gerissen wird, abgehärtet und gestärket, und wenn noch irgend ein Grad von Kraft in ihr liegt, solcher endlich dadurch gereitzt werden, sich auszubreiten, und den Triebrädern der Seelenfähigkeiten einen neuen Schwung zu geben. Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, scheint sich das vorbeschriebene Beispiel zu erklären. -- So lange N.... einen geistlichen Führer hatte, der ihn auch im Falle der Noth von äußerm Drucke befreite, sahe er bloß auf den gegenwärtigen Augenblick. Sobald sich dieser aber von ihm abzog, und ihn dadurch den Druck von außen mehr fühlen machte, so wurde er genöthigt über den gegenwärtigen Augenblick hinauszudenken. Jn diesem Betrachte koͤnnte man eine solche Seele wohl eine kranke Seele nennen. Und ihre Krankheit muß in dem Maße zunehmen, in welchem sie so zu sagen verzaͤrtelt wird. Sie beschraͤnkt sich dann immermehr bloß auf den gegenwaͤrtigen Moment, sie betrachtet das Leben nicht im Ganzen und Zusammenhange, sie trennt den gegenwaͤrtigen Augenblick von dem vorhergehenden und folgenden. So bald sie aber nur von außen durch etwas gereitzt oder gedruͤckt, und dadurch veranlaßt wird, uͤber den gegenwaͤrtigen Augenblick hinauszudenken, so muß sie, um so viel sie dadurch aus ihrer gewohnten Ruhe und Traͤgheit gerissen wird, abgehaͤrtet und gestaͤrket, und wenn noch irgend ein Grad von Kraft in ihr liegt, solcher endlich dadurch gereitzt werden, sich auszubreiten, und den Triebraͤdern der Seelenfaͤhigkeiten einen neuen Schwung zu geben. Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, scheint sich das vorbeschriebene Beispiel zu erklaͤren. — So lange N.... einen geistlichen Fuͤhrer hatte, der ihn auch im Falle der Noth von aͤußerm Drucke befreite, sahe er bloß auf den gegenwaͤrtigen Augenblick. Sobald sich dieser aber von ihm abzog, und ihn dadurch den Druck von außen mehr fuͤhlen machte, so wurde er genoͤthigt uͤber den gegenwaͤrtigen Augenblick hinauszudenken. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0098" n="98"/><lb/> <p>Jn diesem Betrachte koͤnnte man eine solche Seele wohl eine kranke Seele nennen. </p> <p>Und ihre Krankheit muß in dem Maße zunehmen, in welchem sie so zu sagen verzaͤrtelt wird. </p> <p>Sie beschraͤnkt sich dann immermehr bloß auf den gegenwaͤrtigen Moment, sie betrachtet das Leben nicht im Ganzen und Zusammenhange, sie trennt den gegenwaͤrtigen Augenblick von dem vorhergehenden und folgenden. </p> <p>So bald sie aber nur von außen durch etwas gereitzt oder gedruͤckt, und dadurch veranlaßt wird, uͤber den gegenwaͤrtigen Augenblick hinauszudenken, so muß sie, um so viel sie dadurch aus ihrer gewohnten Ruhe und Traͤgheit gerissen wird, abgehaͤrtet und gestaͤrket, und wenn noch irgend ein Grad von Kraft in ihr liegt, solcher endlich dadurch gereitzt werden, sich auszubreiten, und den Triebraͤdern der Seelenfaͤhigkeiten einen neuen Schwung zu geben. </p> <p>Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, scheint sich das vorbeschriebene Beispiel zu erklaͤren. — </p> <p>So lange N.... einen geistlichen Fuͤhrer hatte, der ihn auch im Falle der Noth von aͤußerm Drucke befreite, sahe er bloß auf den gegenwaͤrtigen Augenblick. </p> <p>Sobald sich dieser aber von ihm abzog, und ihn dadurch den Druck von außen mehr fuͤhlen machte, so wurde er genoͤthigt uͤber den gegenwaͤrtigen Augenblick hinauszudenken. </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [98/0098]
Jn diesem Betrachte koͤnnte man eine solche Seele wohl eine kranke Seele nennen.
Und ihre Krankheit muß in dem Maße zunehmen, in welchem sie so zu sagen verzaͤrtelt wird.
Sie beschraͤnkt sich dann immermehr bloß auf den gegenwaͤrtigen Moment, sie betrachtet das Leben nicht im Ganzen und Zusammenhange, sie trennt den gegenwaͤrtigen Augenblick von dem vorhergehenden und folgenden.
So bald sie aber nur von außen durch etwas gereitzt oder gedruͤckt, und dadurch veranlaßt wird, uͤber den gegenwaͤrtigen Augenblick hinauszudenken, so muß sie, um so viel sie dadurch aus ihrer gewohnten Ruhe und Traͤgheit gerissen wird, abgehaͤrtet und gestaͤrket, und wenn noch irgend ein Grad von Kraft in ihr liegt, solcher endlich dadurch gereitzt werden, sich auszubreiten, und den Triebraͤdern der Seelenfaͤhigkeiten einen neuen Schwung zu geben.
Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, scheint sich das vorbeschriebene Beispiel zu erklaͤren. —
So lange N.... einen geistlichen Fuͤhrer hatte, der ihn auch im Falle der Noth von aͤußerm Drucke befreite, sahe er bloß auf den gegenwaͤrtigen Augenblick.
Sobald sich dieser aber von ihm abzog, und ihn dadurch den Druck von außen mehr fuͤhlen machte, so wurde er genoͤthigt uͤber den gegenwaͤrtigen Augenblick hinauszudenken.
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