Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 1. Berlin, 1791.Wenn er dann die Glocken von Erfurt läuten hörte, so wurden allmählig alle seine Erinnerungen an das Vergangene rege -- der gegenwärtige Moment beschränkte sein Daseyn nicht -- sondern er faßte alles das wieder mit, was schon entschwunden war. Und dies waren die glücklichsten Momente seines Lebens, wo sein eigenes Daseyn erst anfing ihn zu interessiren, weil er es in einem gewissen Zusammenhange, und nicht einzeln und zerstückt, betrachtete. Das Einzelne, Abgerissene und Zerstückte in seinem Daseyn, war es immer, das ihm Verdruß und Eckel erweckte. Und dieß entstand so oft, als unter dem Druck der Umstände seine Gedanken sich nicht über den gegenwärtigen Moment erheben konnten. -- Dann war alles so unbedeutend, so leer und trocken, und nicht der Mühe des Denkens werth. -- Dieser Zustand ließ ihn immer die Ankunft der Nacht, einen tiefen Schlummer, ein gänzliches Vergessen seiner Selbst wünschen -- ihm kroch die Zeit mit Schneckenschritten fort -- und er konnte sich nie erklären, warum er in diesem Augenblicke lebte. Jm Anfange seines Aufenthalts in Erfurt waren dieser Augenblicke nur wenige -- er übersah das Leben immer mehr im Ganzen -- die Ortsveränderung war noch neu -- seine Einbildungs- Wenn er dann die Glocken von Erfurt laͤuten hoͤrte, so wurden allmaͤhlig alle seine Erinnerungen an das Vergangene rege — der gegenwaͤrtige Moment beschraͤnkte sein Daseyn nicht — sondern er faßte alles das wieder mit, was schon entschwunden war. Und dies waren die gluͤcklichsten Momente seines Lebens, wo sein eigenes Daseyn erst anfing ihn zu interessiren, weil er es in einem gewissen Zusammenhange, und nicht einzeln und zerstuͤckt, betrachtete. Das Einzelne, Abgerissene und Zerstuͤckte in seinem Daseyn, war es immer, das ihm Verdruß und Eckel erweckte. Und dieß entstand so oft, als unter dem Druck der Umstaͤnde seine Gedanken sich nicht uͤber den gegenwaͤrtigen Moment erheben konnten. — Dann war alles so unbedeutend, so leer und trocken, und nicht der Muͤhe des Denkens werth. — Dieser Zustand ließ ihn immer die Ankunft der Nacht, einen tiefen Schlummer, ein gaͤnzliches Vergessen seiner Selbst wuͤnschen — ihm kroch die Zeit mit Schneckenschritten fort — und er konnte sich nie erklaͤren, warum er in diesem Augenblicke lebte. Jm Anfange seines Aufenthalts in Erfurt waren dieser Augenblicke nur wenige — er uͤbersah das Leben immer mehr im Ganzen — die Ortsveraͤnderung war noch neu — seine Einbildungs- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0093" n="91"/><lb/> <p>Wenn er dann die Glocken von Erfurt laͤuten hoͤrte, so wurden allmaͤhlig alle seine Erinnerungen an das Vergangene rege — der gegenwaͤrtige Moment beschraͤnkte sein Daseyn nicht — sondern er faßte alles das wieder mit, was schon entschwunden war. </p> <p>Und dies waren die gluͤcklichsten Momente seines Lebens, wo sein eigenes Daseyn erst anfing ihn zu interessiren, weil er es in einem gewissen Zusammenhange, und nicht einzeln und zerstuͤckt, betrachtete. </p> <p>Das Einzelne, Abgerissene und Zerstuͤckte in seinem Daseyn, war es immer, das ihm Verdruß und Eckel erweckte. </p> <p>Und dieß entstand so oft, als unter dem Druck der Umstaͤnde seine Gedanken sich nicht uͤber den gegenwaͤrtigen Moment erheben konnten. — Dann war alles so unbedeutend, so leer und trocken, und nicht der Muͤhe des Denkens werth. — </p> <p>Dieser Zustand ließ ihn immer die Ankunft der Nacht, einen tiefen Schlummer, ein gaͤnzliches Vergessen seiner Selbst wuͤnschen — ihm kroch die Zeit mit Schneckenschritten fort — und er konnte sich nie erklaͤren, warum er in diesem Augenblicke lebte. </p> <p>Jm Anfange seines Aufenthalts in Erfurt waren dieser Augenblicke nur wenige — er uͤbersah das Leben immer mehr im Ganzen — die Ortsveraͤnderung war noch neu — seine Einbildungs-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [91/0093]
Wenn er dann die Glocken von Erfurt laͤuten hoͤrte, so wurden allmaͤhlig alle seine Erinnerungen an das Vergangene rege — der gegenwaͤrtige Moment beschraͤnkte sein Daseyn nicht — sondern er faßte alles das wieder mit, was schon entschwunden war.
Und dies waren die gluͤcklichsten Momente seines Lebens, wo sein eigenes Daseyn erst anfing ihn zu interessiren, weil er es in einem gewissen Zusammenhange, und nicht einzeln und zerstuͤckt, betrachtete.
Das Einzelne, Abgerissene und Zerstuͤckte in seinem Daseyn, war es immer, das ihm Verdruß und Eckel erweckte.
Und dieß entstand so oft, als unter dem Druck der Umstaͤnde seine Gedanken sich nicht uͤber den gegenwaͤrtigen Moment erheben konnten. — Dann war alles so unbedeutend, so leer und trocken, und nicht der Muͤhe des Denkens werth. —
Dieser Zustand ließ ihn immer die Ankunft der Nacht, einen tiefen Schlummer, ein gaͤnzliches Vergessen seiner Selbst wuͤnschen — ihm kroch die Zeit mit Schneckenschritten fort — und er konnte sich nie erklaͤren, warum er in diesem Augenblicke lebte.
Jm Anfange seines Aufenthalts in Erfurt waren dieser Augenblicke nur wenige — er uͤbersah das Leben immer mehr im Ganzen — die Ortsveraͤnderung war noch neu — seine Einbildungs-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 1. Berlin, 1791, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0801_1791/93>, abgerufen am 26.06.2024. |