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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 2. Berlin, 1789.

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Meine zweite Bemerkung ist die, daß die besten Menschen, selbst die von einem sehr festen Character oft ganz unschuldigerweise eine Neigung in sich empfinden, etwas Unwahres zu sagen, -- ohne dazu necessitirt zu seyn, -- ohne die Unwahrheit zu lieben. Gemeiniglich liegt ein versteckter Grund hierunter verborgen, den ich, -- so wie die meisten Handlungen der Menschen, in die Eitelkeit setze. Man erdichtet gewisse Umstände, wodurch man ein Licht auf sich zu werfen sucht; erzählt die und die großen Männer zu kennen, die man nicht kennt, an dem und dem Orte sich aufgehalten zu haben, wo man nie gewesen ist, Bücher gelesen zu haben, die man nicht gelesen hat; spricht von Gefahren, die uns nie begegnet sind; von Hofnungen, deren Erfüllung unmöglich ist; -- oder man erzählt auch nur etwas Unwahres, um die Gesellschaft zu unterhalten, und seinen Witz zu zeigen, -- und tausend dergleichen Fälle mehr, wo man keine Absicht zu schaden hat, und nicht schaden konnte. Vielleicht liegt in diesen Erdichtungen, so wie auch in ihrer bösen Seite, dem Lügen, ein geheimer Reiz, der uns dazu verführt, und ich glaube, daß es Menschen giebt, denen dieser Reiz zur andern Natur werden kann, so daß sie endlich kaum selbst mehr unterscheiden können, ob sie die Wahrheit sagen, oder nicht sagen. Leute die viel sprechen, und doch auch immer gern etwas Neues, etwas witziges sagen wollen, finden in der Darstellung des Wahren


Meine zweite Bemerkung ist die, daß die besten Menschen, selbst die von einem sehr festen Character oft ganz unschuldigerweise eine Neigung in sich empfinden, etwas Unwahres zu sagen, — ohne dazu necessitirt zu seyn, — ohne die Unwahrheit zu lieben. Gemeiniglich liegt ein versteckter Grund hierunter verborgen, den ich, — so wie die meisten Handlungen der Menschen, in die Eitelkeit setze. Man erdichtet gewisse Umstaͤnde, wodurch man ein Licht auf sich zu werfen sucht; erzaͤhlt die und die großen Maͤnner zu kennen, die man nicht kennt, an dem und dem Orte sich aufgehalten zu haben, wo man nie gewesen ist, Buͤcher gelesen zu haben, die man nicht gelesen hat; spricht von Gefahren, die uns nie begegnet sind; von Hofnungen, deren Erfuͤllung unmoͤglich ist; — oder man erzaͤhlt auch nur etwas Unwahres, um die Gesellschaft zu unterhalten, und seinen Witz zu zeigen, — und tausend dergleichen Faͤlle mehr, wo man keine Absicht zu schaden hat, und nicht schaden konnte. Vielleicht liegt in diesen Erdichtungen, so wie auch in ihrer boͤsen Seite, dem Luͤgen, ein geheimer Reiz, der uns dazu verfuͤhrt, und ich glaube, daß es Menschen giebt, denen dieser Reiz zur andern Natur werden kann, so daß sie endlich kaum selbst mehr unterscheiden koͤnnen, ob sie die Wahrheit sagen, oder nicht sagen. Leute die viel sprechen, und doch auch immer gern etwas Neues, etwas witziges sagen wollen, finden in der Darstellung des Wahren

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[112/0112] Meine zweite Bemerkung ist die, daß die besten Menschen, selbst die von einem sehr festen Character oft ganz unschuldigerweise eine Neigung in sich empfinden, etwas Unwahres zu sagen, — ohne dazu necessitirt zu seyn, — ohne die Unwahrheit zu lieben. Gemeiniglich liegt ein versteckter Grund hierunter verborgen, den ich, — so wie die meisten Handlungen der Menschen, in die Eitelkeit setze. Man erdichtet gewisse Umstaͤnde, wodurch man ein Licht auf sich zu werfen sucht; erzaͤhlt die und die großen Maͤnner zu kennen, die man nicht kennt, an dem und dem Orte sich aufgehalten zu haben, wo man nie gewesen ist, Buͤcher gelesen zu haben, die man nicht gelesen hat; spricht von Gefahren, die uns nie begegnet sind; von Hofnungen, deren Erfuͤllung unmoͤglich ist; — oder man erzaͤhlt auch nur etwas Unwahres, um die Gesellschaft zu unterhalten, und seinen Witz zu zeigen, — und tausend dergleichen Faͤlle mehr, wo man keine Absicht zu schaden hat, und nicht schaden konnte. Vielleicht liegt in diesen Erdichtungen, so wie auch in ihrer boͤsen Seite, dem Luͤgen, ein geheimer Reiz, der uns dazu verfuͤhrt, und ich glaube, daß es Menschen giebt, denen dieser Reiz zur andern Natur werden kann, so daß sie endlich kaum selbst mehr unterscheiden koͤnnen, ob sie die Wahrheit sagen, oder nicht sagen. Leute die viel sprechen, und doch auch immer gern etwas Neues, etwas witziges sagen wollen, finden in der Darstellung des Wahren

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 2. Berlin, 1789, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0702_1789/112>, abgerufen am 06.05.2024.