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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 2. Berlin, 1789.

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sinn,
oder Wahrheitsgefühl anzunehmen, hat mir immer sehr unrichtig geschienen, in so fern man dadurch eine angebohrne Sensation des Wahren versteht, die der deutlichen Erkenntniß desselben vorhergehen soll. Wahrheit im eigentlichen Sinne des Worts, ich mag darunter nur überhaupt eine Notion in Abstracto, oder ein sittliches Verhältniß verstehen, ist durchaus kein Object des Gefühls, sondern muß durch Begriffe bestimmt werden. Diese Begriffe, die wir uns durch Nachdenken nach und nach erworben haben, liegen denn auch bei den Empfindungen des Wahren zu Grunde, ob gleich auf eine dunkle Art, die ohne vorhergegangene Reflexionen des Verstandes, uns zum wahren hinzuziehen, und in der That so einen Seelenzustand hervorzubringen scheinen, den man Wahrheitsgefühl nennen könnte, wenn das Wort Gefühl nicht viel zu unbestimmt bei dieser Sache wäre. -- Wir verrichten das Denken eben so gut mechanisch, wenn wir es lange geübt haben, als die Aeusserungen unsrer körperlichen Kräfte, und es giebt unzählige Fälle, wo wir bei jenem bloß nach Empfindungen zu handeln glauben, weil die vorhergehenden Begriffe nicht immer ein deutliches Bewußtseyn derselben voraussetzen, wornach wir handeln müssen. Die Empfindungen für Wahrheit erfolgen mechanisch nach einem unterliegenden gemeiniglich dunklen Begriffe dessen, was wir für wahr halten, sobald wir die Empfindung zergliedern. --


sinn,
oder Wahrheitsgefuͤhl anzunehmen, hat mir immer sehr unrichtig geschienen, in so fern man dadurch eine angebohrne Sensation des Wahren versteht, die der deutlichen Erkenntniß desselben vorhergehen soll. Wahrheit im eigentlichen Sinne des Worts, ich mag darunter nur uͤberhaupt eine Notion in Abstracto, oder ein sittliches Verhaͤltniß verstehen, ist durchaus kein Object des Gefuͤhls, sondern muß durch Begriffe bestimmt werden. Diese Begriffe, die wir uns durch Nachdenken nach und nach erworben haben, liegen denn auch bei den Empfindungen des Wahren zu Grunde, ob gleich auf eine dunkle Art, die ohne vorhergegangene Reflexionen des Verstandes, uns zum wahren hinzuziehen, und in der That so einen Seelenzustand hervorzubringen scheinen, den man Wahrheitsgefuͤhl nennen koͤnnte, wenn das Wort Gefuͤhl nicht viel zu unbestimmt bei dieser Sache waͤre. — Wir verrichten das Denken eben so gut mechanisch, wenn wir es lange geuͤbt haben, als die Aeusserungen unsrer koͤrperlichen Kraͤfte, und es giebt unzaͤhlige Faͤlle, wo wir bei jenem bloß nach Empfindungen zu handeln glauben, weil die vorhergehenden Begriffe nicht immer ein deutliches Bewußtseyn derselben voraussetzen, wornach wir handeln muͤssen. Die Empfindungen fuͤr Wahrheit erfolgen mechanisch nach einem unterliegenden gemeiniglich dunklen Begriffe dessen, was wir fuͤr wahr halten, sobald wir die Empfindung zergliedern.

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[110/0110] sinn, oder Wahrheitsgefuͤhl anzunehmen, hat mir immer sehr unrichtig geschienen, in so fern man dadurch eine angebohrne Sensation des Wahren versteht, die der deutlichen Erkenntniß desselben vorhergehen soll. Wahrheit im eigentlichen Sinne des Worts, ich mag darunter nur uͤberhaupt eine Notion in Abstracto, oder ein sittliches Verhaͤltniß verstehen, ist durchaus kein Object des Gefuͤhls, sondern muß durch Begriffe bestimmt werden. Diese Begriffe, die wir uns durch Nachdenken nach und nach erworben haben, liegen denn auch bei den Empfindungen des Wahren zu Grunde, ob gleich auf eine dunkle Art, die ohne vorhergegangene Reflexionen des Verstandes, uns zum wahren hinzuziehen, und in der That so einen Seelenzustand hervorzubringen scheinen, den man Wahrheitsgefuͤhl nennen koͤnnte, wenn das Wort Gefuͤhl nicht viel zu unbestimmt bei dieser Sache waͤre. — Wir verrichten das Denken eben so gut mechanisch, wenn wir es lange geuͤbt haben, als die Aeusserungen unsrer koͤrperlichen Kraͤfte, und es giebt unzaͤhlige Faͤlle, wo wir bei jenem bloß nach Empfindungen zu handeln glauben, weil die vorhergehenden Begriffe nicht immer ein deutliches Bewußtseyn derselben voraussetzen, wornach wir handeln muͤssen. Die Empfindungen fuͤr Wahrheit erfolgen mechanisch nach einem unterliegenden gemeiniglich dunklen Begriffe dessen, was wir fuͤr wahr halten, sobald wir die Empfindung zergliedern. —

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 2. Berlin, 1789, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0702_1789/110>, abgerufen am 06.05.2024.