Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788.Jch denke mehr in Gesellschaft, und fühle mehr in der Einsamkeit. Der abwesende Freund ist mir mehrentheils wichtiger und interessanter, meine Empfindungen für ihn zärter, zuweilen gar enthusiastisch, als der Freund, mit dem ich eben spreche. Es ist, als wenn mich etwas gewaltsam zurückzöge, wenn ich Freundschaftsgefühle in Worten ergiessen will; ich fürchte, zu wenig zu sagen, und doch vielleicht dem Freunde mehr sagen zu scheinen, als ich empfand. Will ich's doch, so erkaltet mit den Worten die Empfindung. Eine verworrne Empfindung von Schaam unterdrückt den Ausbruch von Gefühlen für's Gute, wo ein Zeuge dabei ist, und diese Scham schwächt auch so lange die Empfindung selbst. Jn erwachsnen Jahren hab' ich auch vielleicht nie aus eigner Rührung oder Mitleid in andrer Gegenwart geweint, selbst da, wo ich mit dem innersten Gefühl den Gedanken verband, daß vielleicht eine Thräne des Mitgefühls Trost für den geliebten Leidenden seyn würde. Kaum war ich allein, so ergoß sich das volle Herz in einen Strom von Thränen. Die männlichen Eigenschaften des Geistes zogen mich immer am stärksten an. Standhaftigkeit, Festigkeit, Duldsamkeit und Muth waren mir sehr bald die verehrungswürdigsten Eigenschaften eines Mannes, und ich dachte mir immer künftige Lagen meines erwachsnen Alters, wo ich diese auf eine Jch denke mehr in Gesellschaft, und fuͤhle mehr in der Einsamkeit. Der abwesende Freund ist mir mehrentheils wichtiger und interessanter, meine Empfindungen fuͤr ihn zaͤrter, zuweilen gar enthusiastisch, als der Freund, mit dem ich eben spreche. Es ist, als wenn mich etwas gewaltsam zuruͤckzoͤge, wenn ich Freundschaftsgefuͤhle in Worten ergiessen will; ich fuͤrchte, zu wenig zu sagen, und doch vielleicht dem Freunde mehr sagen zu scheinen, als ich empfand. Will ich's doch, so erkaltet mit den Worten die Empfindung. Eine verworrne Empfindung von Schaam unterdruͤckt den Ausbruch von Gefuͤhlen fuͤr's Gute, wo ein Zeuge dabei ist, und diese Scham schwaͤcht auch so lange die Empfindung selbst. Jn erwachsnen Jahren hab' ich auch vielleicht nie aus eigner Ruͤhrung oder Mitleid in andrer Gegenwart geweint, selbst da, wo ich mit dem innersten Gefuͤhl den Gedanken verband, daß vielleicht eine Thraͤne des Mitgefuͤhls Trost fuͤr den geliebten Leidenden seyn wuͤrde. Kaum war ich allein, so ergoß sich das volle Herz in einen Strom von Thraͤnen. Die maͤnnlichen Eigenschaften des Geistes zogen mich immer am staͤrksten an. Standhaftigkeit, Festigkeit, Duldsamkeit und Muth waren mir sehr bald die verehrungswuͤrdigsten Eigenschaften eines Mannes, und ich dachte mir immer kuͤnftige Lagen meines erwachsnen Alters, wo ich diese auf eine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0058" n="58"/><lb/> <p>Jch <hi rendition="#b">denke</hi> mehr in Gesellschaft, und <hi rendition="#b">fuͤhle</hi> mehr in der Einsamkeit. Der abwesende Freund ist mir mehrentheils wichtiger und interessanter, meine Empfindungen fuͤr ihn zaͤrter, zuweilen gar enthusiastisch, als der Freund, mit dem ich eben spreche. Es ist, als wenn mich etwas gewaltsam zuruͤckzoͤge, wenn ich Freundschaftsgefuͤhle in Worten ergiessen will; ich fuͤrchte, zu wenig zu sagen, und doch vielleicht dem Freunde mehr sagen zu scheinen, als ich empfand. Will ich's doch, so erkaltet mit den Worten die Empfindung. Eine verworrne Empfindung von Schaam unterdruͤckt den Ausbruch von Gefuͤhlen fuͤr's Gute, wo ein Zeuge dabei ist, und diese Scham schwaͤcht auch so lange die Empfindung selbst. Jn erwachsnen Jahren hab' ich auch vielleicht nie aus eigner Ruͤhrung oder Mitleid in andrer Gegenwart <hi rendition="#b">geweint,</hi> selbst da, wo ich mit dem innersten Gefuͤhl den Gedanken verband, daß vielleicht eine Thraͤne des Mitgefuͤhls Trost fuͤr den geliebten Leidenden seyn wuͤrde. Kaum war ich allein, so ergoß sich das volle Herz in einen Strom von Thraͤnen.</p> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <p>Die maͤnnlichen Eigenschaften des Geistes zogen mich immer am staͤrksten an. Standhaftigkeit, Festigkeit, Duldsamkeit und Muth waren mir sehr bald die verehrungswuͤrdigsten Eigenschaften eines Mannes, und ich dachte mir immer kuͤnftige Lagen meines erwachsnen Alters, wo ich diese auf eine<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [58/0058]
Jch denke mehr in Gesellschaft, und fuͤhle mehr in der Einsamkeit. Der abwesende Freund ist mir mehrentheils wichtiger und interessanter, meine Empfindungen fuͤr ihn zaͤrter, zuweilen gar enthusiastisch, als der Freund, mit dem ich eben spreche. Es ist, als wenn mich etwas gewaltsam zuruͤckzoͤge, wenn ich Freundschaftsgefuͤhle in Worten ergiessen will; ich fuͤrchte, zu wenig zu sagen, und doch vielleicht dem Freunde mehr sagen zu scheinen, als ich empfand. Will ich's doch, so erkaltet mit den Worten die Empfindung. Eine verworrne Empfindung von Schaam unterdruͤckt den Ausbruch von Gefuͤhlen fuͤr's Gute, wo ein Zeuge dabei ist, und diese Scham schwaͤcht auch so lange die Empfindung selbst. Jn erwachsnen Jahren hab' ich auch vielleicht nie aus eigner Ruͤhrung oder Mitleid in andrer Gegenwart geweint, selbst da, wo ich mit dem innersten Gefuͤhl den Gedanken verband, daß vielleicht eine Thraͤne des Mitgefuͤhls Trost fuͤr den geliebten Leidenden seyn wuͤrde. Kaum war ich allein, so ergoß sich das volle Herz in einen Strom von Thraͤnen.
Die maͤnnlichen Eigenschaften des Geistes zogen mich immer am staͤrksten an. Standhaftigkeit, Festigkeit, Duldsamkeit und Muth waren mir sehr bald die verehrungswuͤrdigsten Eigenschaften eines Mannes, und ich dachte mir immer kuͤnftige Lagen meines erwachsnen Alters, wo ich diese auf eine
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