Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788.
Das wäre also die erste Erzählung, die freilich noch eine bessere Form einer Ahndung haben würde, wenn's dem Mädgen gefällig gewesen wäre, grade an dem Tage eine Ahndung zu haben, als ihr Freund gestorben ist; doch die Ahndung sollte sich ja nur auf die Hiobspost des Juden beziehen. Das Factum mag wohl seine ganze Richtigkeit haben; aber man muß mehr als leichtgläubig seyn, wenn man die vorhergegangene Traurigkeit des Mädgens geradezu für nichts anders als eine Ahndung über irgend eine nahe bevorstehende traurige Nachricht halten will. - Welch ein unlogischer Schluß: "weil jemand eine Traurigkeit empfindet, und deswegen etwas Unangenehmes erwartet, ohne zu wissen, was das Unangenehme seyn wird: so muß die Traurigkeit eine nothwendige Vorbedeutung des Übels seyn" - Wie unendlich viel Ursachen kann
Das waͤre also die erste Erzaͤhlung, die freilich noch eine bessere Form einer Ahndung haben wuͤrde, wenn’s dem Maͤdgen gefaͤllig gewesen waͤre, grade an dem Tage eine Ahndung zu haben, als ihr Freund gestorben ist; doch die Ahndung sollte sich ja nur auf die Hiobspost des Juden beziehen. Das Factum mag wohl seine ganze Richtigkeit haben; aber man muß mehr als leichtglaͤubig seyn, wenn man die vorhergegangene Traurigkeit des Maͤdgens geradezu fuͤr nichts anders als eine Ahndung uͤber irgend eine nahe bevorstehende traurige Nachricht halten will. – Welch ein unlogischer Schluß: »weil jemand eine Traurigkeit empfindet, und deswegen etwas Unangenehmes erwartet, ohne zu wissen, was das Unangenehme seyn wird: so muß die Traurigkeit eine nothwendige Vorbedeutung des Übels seyn« – Wie unendlich viel Ursachen kann <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0097" n="95"/><lb/> Maͤdgen; »aber krank, sehr krank? So ist er wohl schon todt.« »So ist's,« antwortete der Jude, und geht, und das Maͤdgen, das den Jnformator, einen jungen vierundzwanzigjaͤhrigen dem Anschein nach voͤllig gesunden Mann, vor einigen Wochen noch gesehen, und vielleicht nicht ohne Ruͤhrung gesehen, seitdem aber nicht das mindeste von ihm gehoͤrt hatte, erfaͤhrt von dem zuruͤckgerufenen Ungluͤcksboten, daß ihr Freund vom Schlagfluß geruͤhrt und nach einem achttaͤgigen Lager gestorben sey.«</p> <p>Das waͤre also die erste Erzaͤhlung, die freilich noch eine bessere Form einer Ahndung haben wuͤrde, wenn’s dem Maͤdgen gefaͤllig gewesen waͤre, grade an dem Tage eine Ahndung zu haben, als ihr Freund gestorben ist; doch die Ahndung sollte sich ja nur auf die Hiobspost des Juden beziehen. Das Factum mag wohl seine ganze Richtigkeit haben; aber man muß mehr als leichtglaͤubig seyn, wenn man die vorhergegangene Traurigkeit des Maͤdgens geradezu fuͤr nichts anders als eine Ahndung uͤber irgend eine nahe bevorstehende traurige Nachricht halten will. – Welch ein unlogischer Schluß: <choice><corr>»weil</corr><sic>›weil</sic></choice> jemand eine Traurigkeit empfindet, und deswegen etwas Unangenehmes erwartet, ohne zu wissen, was das Unangenehme seyn wird: so muß die Traurigkeit eine nothwendige Vorbedeutung des Übels seyn« – Wie unendlich viel Ursachen kann<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [95/0097]
Maͤdgen; »aber krank, sehr krank? So ist er wohl schon todt.« »So ist's,« antwortete der Jude, und geht, und das Maͤdgen, das den Jnformator, einen jungen vierundzwanzigjaͤhrigen dem Anschein nach voͤllig gesunden Mann, vor einigen Wochen noch gesehen, und vielleicht nicht ohne Ruͤhrung gesehen, seitdem aber nicht das mindeste von ihm gehoͤrt hatte, erfaͤhrt von dem zuruͤckgerufenen Ungluͤcksboten, daß ihr Freund vom Schlagfluß geruͤhrt und nach einem achttaͤgigen Lager gestorben sey.«
Das waͤre also die erste Erzaͤhlung, die freilich noch eine bessere Form einer Ahndung haben wuͤrde, wenn’s dem Maͤdgen gefaͤllig gewesen waͤre, grade an dem Tage eine Ahndung zu haben, als ihr Freund gestorben ist; doch die Ahndung sollte sich ja nur auf die Hiobspost des Juden beziehen. Das Factum mag wohl seine ganze Richtigkeit haben; aber man muß mehr als leichtglaͤubig seyn, wenn man die vorhergegangene Traurigkeit des Maͤdgens geradezu fuͤr nichts anders als eine Ahndung uͤber irgend eine nahe bevorstehende traurige Nachricht halten will. – Welch ein unlogischer Schluß: »weil jemand eine Traurigkeit empfindet, und deswegen etwas Unangenehmes erwartet, ohne zu wissen, was das Unangenehme seyn wird: so muß die Traurigkeit eine nothwendige Vorbedeutung des Übels seyn« – Wie unendlich viel Ursachen kann
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788/97>, abgerufen am 16.02.2025. |