Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788.
Der ehemalige Professor Wähner zu Göttingen hat oft von sich erzählt, daß ihm in jüngern Jahren aufgegeben worden, einen gewissen Gedanken in zwei Griechischen Versen auszudrücken. Er beschäftigte sich ein paar Tage damit (seine Seele war also wahrscheinlich ganz auf diesen Punkt gespannt, und angeleitet, durch einen neuen hinzugekommenen Gedankenschwung - vielleicht auch im Schlafe das Gesuchte zu finden); er kann aber den aufgegebenen Gedanken ohne Nachtheil seiner Stärke nicht in zwei Verse zwingen. Er schläft an einem Abend unter der Bemühung, diese zwei Verse herauszubringen, ein. Jn der Nacht klingelt er seiner Aufwärterinn, läßt sich Licht, Papier, Feder und Dinte geben, schreibt
Der ehemalige Professor Waͤhner zu Goͤttingen hat oft von sich erzaͤhlt, daß ihm in juͤngern Jahren aufgegeben worden, einen gewissen Gedanken in zwei Griechischen Versen auszudruͤcken. Er beschaͤftigte sich ein paar Tage damit (seine Seele war also wahrscheinlich ganz auf diesen Punkt gespannt, und angeleitet, durch einen neuen hinzugekommenen Gedankenschwung – vielleicht auch im Schlafe das Gesuchte zu finden); er kann aber den aufgegebenen Gedanken ohne Nachtheil seiner Staͤrke nicht in zwei Verse zwingen. Er schlaͤft an einem Abend unter der Bemuͤhung, diese zwei Verse herauszubringen, ein. Jn der Nacht klingelt er seiner Aufwaͤrterinn, laͤßt sich Licht, Papier, Feder und Dinte geben, schreibt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0004" n="2"/><lb/> brachten; andere, welche im Traume auf neue sehr wichtige scientifische Jdeen fielen, woran sie im Wachen noch nie gedacht hatten. Daß dies nichts ausserordentliches sey, und daß auch im Traume die Seele nach dem einmaligen Vorrathe ihrer Begriffe, und nicht nach solchen denke und handle, welche nach der Meinung so vieler Unphilosophen von andern ausser uns befindlichen Geistern entstehen sollen, wird ein jeder leicht einsehen, welcher mit den Gesetzen des menschlichen Denkens bekannt ist. Folgende Geschichte scheint mir daher gar nichts unnatuͤrliches zu enthalten, zumal da sie von einem glaubwuͤrdigen Manne erzaͤhlt worden ist. (3ten Bds. 1stes Stuͤck, Seit. 88 ff.)</p> <p>Der ehemalige Professor <hi rendition="#b">Waͤhner</hi> zu Goͤttingen hat oft von sich erzaͤhlt, daß ihm in juͤngern Jahren aufgegeben worden, einen gewissen Gedanken in zwei Griechischen Versen auszudruͤcken.</p> <p>Er beschaͤftigte sich ein paar Tage damit (seine Seele war also wahrscheinlich ganz auf diesen Punkt gespannt, und angeleitet, durch einen neuen hinzugekommenen Gedankenschwung – vielleicht auch im Schlafe das Gesuchte zu finden); er kann aber den aufgegebenen Gedanken ohne Nachtheil seiner Staͤrke nicht in zwei Verse zwingen.</p> <p>Er schlaͤft an einem Abend unter der Bemuͤhung, diese zwei Verse herauszubringen, ein. Jn der Nacht klingelt er seiner Aufwaͤrterinn, laͤßt sich Licht, Papier, Feder und Dinte geben, schreibt<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [2/0004]
brachten; andere, welche im Traume auf neue sehr wichtige scientifische Jdeen fielen, woran sie im Wachen noch nie gedacht hatten. Daß dies nichts ausserordentliches sey, und daß auch im Traume die Seele nach dem einmaligen Vorrathe ihrer Begriffe, und nicht nach solchen denke und handle, welche nach der Meinung so vieler Unphilosophen von andern ausser uns befindlichen Geistern entstehen sollen, wird ein jeder leicht einsehen, welcher mit den Gesetzen des menschlichen Denkens bekannt ist. Folgende Geschichte scheint mir daher gar nichts unnatuͤrliches zu enthalten, zumal da sie von einem glaubwuͤrdigen Manne erzaͤhlt worden ist. (3ten Bds. 1stes Stuͤck, Seit. 88 ff.)
Der ehemalige Professor Waͤhner zu Goͤttingen hat oft von sich erzaͤhlt, daß ihm in juͤngern Jahren aufgegeben worden, einen gewissen Gedanken in zwei Griechischen Versen auszudruͤcken.
Er beschaͤftigte sich ein paar Tage damit (seine Seele war also wahrscheinlich ganz auf diesen Punkt gespannt, und angeleitet, durch einen neuen hinzugekommenen Gedankenschwung – vielleicht auch im Schlafe das Gesuchte zu finden); er kann aber den aufgegebenen Gedanken ohne Nachtheil seiner Staͤrke nicht in zwei Verse zwingen.
Er schlaͤft an einem Abend unter der Bemuͤhung, diese zwei Verse herauszubringen, ein. Jn der Nacht klingelt er seiner Aufwaͤrterinn, laͤßt sich Licht, Papier, Feder und Dinte geben, schreibt
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788/4>, abgerufen am 16.07.2024. |