Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787.
So wie also über diese unzurücktreiblichen Probleme die Vernunft von der Natur selbst zu einem ewigen Scepticismus verurtheilt zu seyn scheint; so greift sie um ihrer endlichen Selbstbefriedigung willen gleichsam zu gewaltsamen Mitteln, und will der Natur ihre großen, unenthüllbaren Geheimnisse selbst abzwingen; tritt ihre eigene Fackel mit Füßen, um in einer undurchdringlichen Nacht desto heller zu sehen, wähnt jede gewöhnliche Erkenntniß nach Naturgesetzen für blind, oder wenigstens kurzsichtig; findet mehr Beruhigung in Unbegreiflichkeiten, als im Begreiflichen; läßt statt der Urtheils- die Einbildungskraft würken; ahndet und muthmaßt, statt zu sehen, glaubt, statt zu prüfen. Undso entsteht dann eine Welt von Unbegreiflichkeiten, Wunderkräften, die man durch den Schleier, den die Natur wenigstens vor unser gegenwärtiges Auge darüber geworfen zu haben scheint, in jeder natürlichen,ja als ganz alltäglichen Erscheinung sichtbar hervortreten sieht: -- glaubt Gott zu verehren, und kniet vor Affen; traut auf Wunder, und läßt sich
So wie also uͤber diese unzuruͤcktreiblichen Probleme die Vernunft von der Natur selbst zu einem ewigen Scepticismus verurtheilt zu seyn scheint; so greift sie um ihrer endlichen Selbstbefriedigung willen gleichsam zu gewaltsamen Mitteln, und will der Natur ihre großen, unenthuͤllbaren Geheimnisse selbst abzwingen; tritt ihre eigene Fackel mit Fuͤßen, um in einer undurchdringlichen Nacht desto heller zu sehen, waͤhnt jede gewoͤhnliche Erkenntniß nach Naturgesetzen fuͤr blind, oder wenigstens kurzsichtig; findet mehr Beruhigung in Unbegreiflichkeiten, als im Begreiflichen; laͤßt statt der Urtheils- die Einbildungskraft wuͤrken; ahndet und muthmaßt, statt zu sehen, glaubt, statt zu pruͤfen. Undso entsteht dann eine Welt von Unbegreiflichkeiten, Wunderkraͤften, die man durch den Schleier, den die Natur wenigstens vor unser gegenwaͤrtiges Auge daruͤber geworfen zu haben scheint, in jeder natuͤrlichen,ja als ganz alltaͤglichen Erscheinung sichtbar hervortreten sieht: — glaubt Gott zu verehren, und kniet vor Affen; traut auf Wunder, und laͤßt sich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0040" n="40"/><lb/> welcher <hi rendition="#b">Neuton,</hi> oder <hi rendition="#b">Haller,</hi> oder <hi rendition="#b">Leibnitz</hi> kann auch nur dem gemeinen Mann, der ihn darum befraͤgt, befriedigende Antwort geben? Und eben so unsern großen Wunsch fuͤr Fortdauer und Unsterblichkeit, welcher <hi rendition="#b">Socrates,</hi> welcher <hi rendition="#b">Mendelssohn</hi> kann ihn hinlaͤnglich begruͤnden oder staͤrken? —</p> <p>So wie also uͤber diese unzuruͤcktreiblichen Probleme die Vernunft von der Natur selbst zu einem ewigen Scepticismus verurtheilt zu seyn scheint; so greift sie um ihrer endlichen Selbstbefriedigung willen gleichsam zu gewaltsamen Mitteln, und will der Natur ihre großen, unenthuͤllbaren Geheimnisse selbst abzwingen; tritt ihre eigene Fackel mit Fuͤßen, um in einer undurchdringlichen Nacht desto heller zu sehen, waͤhnt jede gewoͤhnliche Erkenntniß nach Naturgesetzen fuͤr blind, oder wenigstens kurzsichtig; findet mehr Beruhigung in Unbegreiflichkeiten, als im Begreiflichen; laͤßt statt der Urtheils- die Einbildungskraft wuͤrken; ahndet und muthmaßt, statt zu sehen, glaubt, statt zu pruͤfen. Undso entsteht dann eine Welt von Unbegreiflichkeiten, Wunderkraͤften, die man durch den Schleier, den die Natur wenigstens vor unser gegenwaͤrtiges Auge daruͤber geworfen zu haben scheint, in jeder natuͤrlichen,ja als ganz alltaͤglichen Erscheinung sichtbar hervortreten sieht: — glaubt Gott zu verehren, und kniet vor Affen; traut auf Wunder, und laͤßt sich<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [40/0040]
welcher Neuton, oder Haller, oder Leibnitz kann auch nur dem gemeinen Mann, der ihn darum befraͤgt, befriedigende Antwort geben? Und eben so unsern großen Wunsch fuͤr Fortdauer und Unsterblichkeit, welcher Socrates, welcher Mendelssohn kann ihn hinlaͤnglich begruͤnden oder staͤrken? —
So wie also uͤber diese unzuruͤcktreiblichen Probleme die Vernunft von der Natur selbst zu einem ewigen Scepticismus verurtheilt zu seyn scheint; so greift sie um ihrer endlichen Selbstbefriedigung willen gleichsam zu gewaltsamen Mitteln, und will der Natur ihre großen, unenthuͤllbaren Geheimnisse selbst abzwingen; tritt ihre eigene Fackel mit Fuͤßen, um in einer undurchdringlichen Nacht desto heller zu sehen, waͤhnt jede gewoͤhnliche Erkenntniß nach Naturgesetzen fuͤr blind, oder wenigstens kurzsichtig; findet mehr Beruhigung in Unbegreiflichkeiten, als im Begreiflichen; laͤßt statt der Urtheils- die Einbildungskraft wuͤrken; ahndet und muthmaßt, statt zu sehen, glaubt, statt zu pruͤfen. Undso entsteht dann eine Welt von Unbegreiflichkeiten, Wunderkraͤften, die man durch den Schleier, den die Natur wenigstens vor unser gegenwaͤrtiges Auge daruͤber geworfen zu haben scheint, in jeder natuͤrlichen,ja als ganz alltaͤglichen Erscheinung sichtbar hervortreten sieht: — glaubt Gott zu verehren, und kniet vor Affen; traut auf Wunder, und laͤßt sich
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0503_1787/40>, abgerufen am 16.02.2025. |