Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787.
Der Geist des Menschen ist kein sich selbst bestimmendes, oder ursprünglich und aus sich selbst handelndes Wesen. Er sieht, denkt, will und handelt immer so,wie er von außen her, durch Umstand und Zufall bestimmt wird. Er ist sehr wenig an sich selbst, er wird allemal, was er ist. Er gleicht einer Pflanze, die in ihrem Keim Geschmack, Geruch und Farbe desjenigen Erdreichs aufnimmt, auf welchem sie wächst. Er ist an sich selbst ein Leeres, und ist nur damit versehen, womit Zeit, Raum und Zufälligkeit seiner Existenz ihn versorgen, -- und hat daher auch allemal, daß ich so sage, Geruch und Duft seines Zeitalters, seines Jahrhunderts. "Damals dachten, damals handelten die Menschen so oder so", sagt vielmehr: damals mußten sie so denken, so handeln. So wie demnach der Naturlehrer ein nie bemerktes, oder häufiger als gewöhnlich sich zeigendes Phänomen der Atmosphäre aus dem damaligen Grade der Wärme und Kälte, der Dichtigkeit oder Dünheit der Luft, der Menge und der Gattungen der Dünste und ihrer Mischung zu erklären unternimmt; eben so laßt uns auch die Ursachen jener geistigen Jnfluenza, und des ansteckenden schwärmerischen Humors unseres Jahrhunderts aus die-
Der Geist des Menschen ist kein sich selbst bestimmendes, oder urspruͤnglich und aus sich selbst handelndes Wesen. Er sieht, denkt, will und handelt immer so,wie er von außen her, durch Umstand und Zufall bestimmt wird. Er ist sehr wenig an sich selbst, er wird allemal, was er ist. Er gleicht einer Pflanze, die in ihrem Keim Geschmack, Geruch und Farbe desjenigen Erdreichs aufnimmt, auf welchem sie waͤchst. Er ist an sich selbst ein Leeres, und ist nur damit versehen, womit Zeit, Raum und Zufaͤlligkeit seiner Existenz ihn versorgen, — und hat daher auch allemal, daß ich so sage, Geruch und Duft seines Zeitalters, seines Jahrhunderts. »Damals dachten, damals handelten die Menschen so oder so«, sagt vielmehr: damals mußten sie so denken, so handeln. So wie demnach der Naturlehrer ein nie bemerktes, oder haͤufiger als gewoͤhnlich sich zeigendes Phaͤnomen der Atmosphaͤre aus dem damaligen Grade der Waͤrme und Kaͤlte, der Dichtigkeit oder Duͤnheit der Luft, der Menge und der Gattungen der Duͤnste und ihrer Mischung zu erklaͤren unternimmt; eben so laßt uns auch die Ursachen jener geistigen Jnfluenza, und des ansteckenden schwaͤrmerischen Humors unseres Jahrhunderts aus die- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0025" n="25"/><lb/> oͤffnet; oder auch, daß die gewoͤhnlichsten Ursachen derselben mit verstaͤrkter Kraft auf unsere Zeitgenossen wuͤrken.</p> <p>Der Geist des Menschen ist kein sich selbst bestimmendes, oder urspruͤnglich und aus sich selbst handelndes Wesen. Er sieht, denkt, will und handelt immer so,<hi rendition="#b">wie</hi> er von außen her, durch Umstand und Zufall bestimmt wird. Er ist sehr wenig an sich selbst, er <hi rendition="#b">wird</hi> allemal, was er ist. Er gleicht einer Pflanze, die in ihrem Keim Geschmack, Geruch und Farbe desjenigen Erdreichs aufnimmt, auf welchem sie waͤchst. Er ist an sich selbst ein Leeres, und ist nur damit versehen, womit Zeit, Raum und Zufaͤlligkeit seiner Existenz ihn versorgen, — und hat daher auch allemal, daß ich so sage, Geruch und Duft seines Zeitalters, seines Jahrhunderts. »Damals dachten, damals handelten die Menschen so oder so«, sagt vielmehr: damals mußten sie so denken, so handeln.</p> <p>So wie demnach der Naturlehrer ein nie bemerktes, oder haͤufiger als gewoͤhnlich sich zeigendes Phaͤnomen der Atmosphaͤre aus dem damaligen Grade der Waͤrme und Kaͤlte, der Dichtigkeit oder Duͤnheit der Luft, der Menge und der Gattungen der Duͤnste und ihrer Mischung zu erklaͤren unternimmt; eben so laßt uns auch die Ursachen jener geistigen Jnfluenza, und des ansteckenden schwaͤrmerischen Humors unseres Jahrhunderts aus die-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [25/0025]
oͤffnet; oder auch, daß die gewoͤhnlichsten Ursachen derselben mit verstaͤrkter Kraft auf unsere Zeitgenossen wuͤrken.
Der Geist des Menschen ist kein sich selbst bestimmendes, oder urspruͤnglich und aus sich selbst handelndes Wesen. Er sieht, denkt, will und handelt immer so,wie er von außen her, durch Umstand und Zufall bestimmt wird. Er ist sehr wenig an sich selbst, er wird allemal, was er ist. Er gleicht einer Pflanze, die in ihrem Keim Geschmack, Geruch und Farbe desjenigen Erdreichs aufnimmt, auf welchem sie waͤchst. Er ist an sich selbst ein Leeres, und ist nur damit versehen, womit Zeit, Raum und Zufaͤlligkeit seiner Existenz ihn versorgen, — und hat daher auch allemal, daß ich so sage, Geruch und Duft seines Zeitalters, seines Jahrhunderts. »Damals dachten, damals handelten die Menschen so oder so«, sagt vielmehr: damals mußten sie so denken, so handeln.
So wie demnach der Naturlehrer ein nie bemerktes, oder haͤufiger als gewoͤhnlich sich zeigendes Phaͤnomen der Atmosphaͤre aus dem damaligen Grade der Waͤrme und Kaͤlte, der Dichtigkeit oder Duͤnheit der Luft, der Menge und der Gattungen der Duͤnste und ihrer Mischung zu erklaͤren unternimmt; eben so laßt uns auch die Ursachen jener geistigen Jnfluenza, und des ansteckenden schwaͤrmerischen Humors unseres Jahrhunderts aus die-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0503_1787/25>, abgerufen am 16.02.2025. |