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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787.

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haltungen einen Geschmack finden. Am Ende aber würkten sie doch so sehr auf den jungen Semler, daß er seine bisherige Frölichkeit verliert, seine vorigen lieben Gesellschafter vermeidet, und wenn er einmal mit einem spricht, ihn zur Nachahmung reizt. Ein Beweis, wie stark die Proselytenmachersucht mit der geglaubten Wiedergeburt verbunden ist. Diese Leute scheinen eigentlich mehr aus einem warmen Gutmeinen, als aus Ehrgeitz, andere in ihre Netze zu ziehen. Sie fühlen sich in dem dumpfen Gefühl der Gnade so glücklich, daß sie auch andern dieses Glück herzlich wünschen, und die Menschen bedauren, die sich durch die Vernunft noch bey der Nase herumführen lassen.

Doch will es immer noch nicht recht mit ihm zum Durchbruch kommen. "Kein Winkel im Hause war übrig", sagt er, "wo ich nicht, um gewiß allein und unbemerkt zu seyn, oft gekniet und viele Thränen geweinet habe, Gott möge mich der grossen Gnade (die Versiegelung, daß ich ein Kind Gottes sey,) würdigen. Allein nun fehlte mir das, was jene Glauben nannten. -- Jch blieb also unter dem Gesetz, in einem gesetzlichen Zustande, wie es hieß. Jch untersuchte mich aufs alleraufrichtigste, ob ich wissentlich noch einer geistlichen Unart nachhinge, oder einen Bann behielte. Jch besann mich, daß ich zwey- oder dreymal einen Sechser behalten, und einen Pfennig oder Dreyer in die Ar-


haltungen einen Geschmack finden. Am Ende aber wuͤrkten sie doch so sehr auf den jungen Semler, daß er seine bisherige Froͤlichkeit verliert, seine vorigen lieben Gesellschafter vermeidet, und wenn er einmal mit einem spricht, ihn zur Nachahmung reizt. Ein Beweis, wie stark die Proselytenmachersucht mit der geglaubten Wiedergeburt verbunden ist. Diese Leute scheinen eigentlich mehr aus einem warmen Gutmeinen, als aus Ehrgeitz, andere in ihre Netze zu ziehen. Sie fuͤhlen sich in dem dumpfen Gefuͤhl der Gnade so gluͤcklich, daß sie auch andern dieses Gluͤck herzlich wuͤnschen, und die Menschen bedauren, die sich durch die Vernunft noch bey der Nase herumfuͤhren lassen.

Doch will es immer noch nicht recht mit ihm zum Durchbruch kommen. »Kein Winkel im Hause war uͤbrig«, sagt er, »wo ich nicht, um gewiß allein und unbemerkt zu seyn, oft gekniet und viele Thraͤnen geweinet habe, Gott moͤge mich der grossen Gnade (die Versiegelung, daß ich ein Kind Gottes sey,) wuͤrdigen. Allein nun fehlte mir das, was jene Glauben nannten. — Jch blieb also unter dem Gesetz, in einem gesetzlichen Zustande, wie es hieß. Jch untersuchte mich aufs alleraufrichtigste, ob ich wissentlich noch einer geistlichen Unart nachhinge, oder einen Bann behielte. Jch besann mich, daß ich zwey- oder dreymal einen Sechser behalten, und einen Pfennig oder Dreyer in die Ar-

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[120/0120] haltungen einen Geschmack finden. Am Ende aber wuͤrkten sie doch so sehr auf den jungen Semler, daß er seine bisherige Froͤlichkeit verliert, seine vorigen lieben Gesellschafter vermeidet, und wenn er einmal mit einem spricht, ihn zur Nachahmung reizt. Ein Beweis, wie stark die Proselytenmachersucht mit der geglaubten Wiedergeburt verbunden ist. Diese Leute scheinen eigentlich mehr aus einem warmen Gutmeinen, als aus Ehrgeitz, andere in ihre Netze zu ziehen. Sie fuͤhlen sich in dem dumpfen Gefuͤhl der Gnade so gluͤcklich, daß sie auch andern dieses Gluͤck herzlich wuͤnschen, und die Menschen bedauren, die sich durch die Vernunft noch bey der Nase herumfuͤhren lassen. Doch will es immer noch nicht recht mit ihm zum Durchbruch kommen. »Kein Winkel im Hause war uͤbrig«, sagt er, »wo ich nicht, um gewiß allein und unbemerkt zu seyn, oft gekniet und viele Thraͤnen geweinet habe, Gott moͤge mich der grossen Gnade (die Versiegelung, daß ich ein Kind Gottes sey,) wuͤrdigen. Allein nun fehlte mir das, was jene Glauben nannten. — Jch blieb also unter dem Gesetz, in einem gesetzlichen Zustande, wie es hieß. Jch untersuchte mich aufs alleraufrichtigste, ob ich wissentlich noch einer geistlichen Unart nachhinge, oder einen Bann behielte. Jch besann mich, daß ich zwey- oder dreymal einen Sechser behalten, und einen Pfennig oder Dreyer in die Ar-

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0503_1787/120>, abgerufen am 04.05.2024.