Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.
Jch bezog die Universität, und mit dieser Veränderung meiner Lage änderte sich denn auch meine
Jch bezog die Universitaͤt, und mit dieser Veraͤnderung meiner Lage aͤnderte sich denn auch meine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0068" n="66"/><lb/> Zu furchtsam mich ihr zu entdecken, dachte ich weiter nicht auf Gelegenheit sie naͤher kennen zu lernen, sondern lebte der Zuversicht, fuͤr einander geschaffne Seelen faͤnden sich schon von selbst. Jndeß sprach ich mit ihr auf meinen einsamen Spaziergaͤngen, ohne sie bei mir zu haben, ich schrieb Briefe an sie, ohne sie abzuschicken, setzte meine Empfindungen auf, die mir beim Spazierengehen einfielen, und zerriß sie wieder. Kurz, ich liebte einen Schatten, ein Bild, das sich meine Einbildungskraft mit allen Farben der weiblichen Tugend, nach <choice><corr>meinen</corr><sic>meinem</sic></choice> damaligen freilich sehr eingeschraͤnkten Begriffen davon, ausmahlte. Jch verließ das Gymnasium und die Stadt, ohne den Gegenstand meiner Liebe gesprochen zu haben. Jch hatte doch den Vortheil von meiner Leidenschaft fuͤr dieses Maͤdchen, daß meine Triebe eine andre Richtung bekamen, daß mir mein voriges Laster immer abscheulicher wurde; denn um ihr zu gefallen, lebte ich so ordentlich, daß ich glaubte, ihr vor jedem meiner Gedanken und Handlungen Rechenschaft geben zu muͤssen. Sie war also in allem Betracht mit eine Ursache zu meiner Genesung, ich wurde dadurch wieder ein Mensch, und zwar ein vernuͤnftiger Mensch. Jene Empfindungen der Theilnahme an der menschlichen Gesellschaft wachten in mir wieder auf, und machten mich mehr als bisher gesellig.</p> <p>Jch bezog die Universitaͤt, und mit dieser Veraͤnderung meiner Lage aͤnderte sich denn auch meine<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [66/0068]
Zu furchtsam mich ihr zu entdecken, dachte ich weiter nicht auf Gelegenheit sie naͤher kennen zu lernen, sondern lebte der Zuversicht, fuͤr einander geschaffne Seelen faͤnden sich schon von selbst. Jndeß sprach ich mit ihr auf meinen einsamen Spaziergaͤngen, ohne sie bei mir zu haben, ich schrieb Briefe an sie, ohne sie abzuschicken, setzte meine Empfindungen auf, die mir beim Spazierengehen einfielen, und zerriß sie wieder. Kurz, ich liebte einen Schatten, ein Bild, das sich meine Einbildungskraft mit allen Farben der weiblichen Tugend, nach meinen damaligen freilich sehr eingeschraͤnkten Begriffen davon, ausmahlte. Jch verließ das Gymnasium und die Stadt, ohne den Gegenstand meiner Liebe gesprochen zu haben. Jch hatte doch den Vortheil von meiner Leidenschaft fuͤr dieses Maͤdchen, daß meine Triebe eine andre Richtung bekamen, daß mir mein voriges Laster immer abscheulicher wurde; denn um ihr zu gefallen, lebte ich so ordentlich, daß ich glaubte, ihr vor jedem meiner Gedanken und Handlungen Rechenschaft geben zu muͤssen. Sie war also in allem Betracht mit eine Ursache zu meiner Genesung, ich wurde dadurch wieder ein Mensch, und zwar ein vernuͤnftiger Mensch. Jene Empfindungen der Theilnahme an der menschlichen Gesellschaft wachten in mir wieder auf, und machten mich mehr als bisher gesellig.
Jch bezog die Universitaͤt, und mit dieser Veraͤnderung meiner Lage aͤnderte sich denn auch meine
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
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