Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite


auch zugleich componirte. Er erwachte aufs neue, stand auf, ließ sich Licht bringen, und schrieb den ganzen Traum, nebst dem Gedicht und der Composition noch in der nehmlichen Nacht auf, wie es im October des Merkurs 1784. steht.

Jch kann in dem uns mitgetheilten sonderbaren Traum des Herrn von Seckendorff eben nicht viel Sonderbares finden, außer, daß er im Schlafe ein würkliches Gedicht, und noch dazu eine Composition desselben machte, wovon aber doch auch in der psychologischen Geschichte der Träumereien mehrere Beispiele vorkommen. Was war natürlicher, als daß einem Manne, der gewiß oft über die Reihe seiner Schicksale nachgedacht hatte, auch sie wohl einmahl noch ganz wie in einem Spiegel zu überschauen wünschte, im Traume ein anderer mit einem Spiegel erschien, und ihm darin die Folge seines Lebens vermöge seiner lebhaften Einbildungskraft deutlich sehen ließ? Es ist bekannt, daß diese Seelenkraft im Schlafe, wenn unsere Sinnen ruhen, und sie ungestöhrt und ganz allein würken kann, oft mit der größten Lebhaftigkeit uns an Begebenheiten erinnert, die wir lange schon vergessen hatten. Es war also eine gewöhnliche und natürliche Folge dieser Lebhaftigkeit, daß er sich als ein Kind in dem Spiegel mit einer Menge von Umständen wiedererblickte, die er schon längst vergessen haben konnte, - und was war vollends natürlicher, als daß man seine ehemalige Geliebte auf ei-


auch zugleich componirte. Er erwachte aufs neue, stand auf, ließ sich Licht bringen, und schrieb den ganzen Traum, nebst dem Gedicht und der Composition noch in der nehmlichen Nacht auf, wie es im October des Merkurs 1784. steht.

Jch kann in dem uns mitgetheilten sonderbaren Traum des Herrn von Seckendorff eben nicht viel Sonderbares finden, außer, daß er im Schlafe ein wuͤrkliches Gedicht, und noch dazu eine Composition desselben machte, wovon aber doch auch in der psychologischen Geschichte der Traͤumereien mehrere Beispiele vorkommen. Was war natuͤrlicher, als daß einem Manne, der gewiß oft uͤber die Reihe seiner Schicksale nachgedacht hatte, auch sie wohl einmahl noch ganz wie in einem Spiegel zu uͤberschauen wuͤnschte, im Traume ein anderer mit einem Spiegel erschien, und ihm darin die Folge seines Lebens vermoͤge seiner lebhaften Einbildungskraft deutlich sehen ließ? Es ist bekannt, daß diese Seelenkraft im Schlafe, wenn unsere Sinnen ruhen, und sie ungestoͤhrt und ganz allein wuͤrken kann, oft mit der groͤßten Lebhaftigkeit uns an Begebenheiten erinnert, die wir lange schon vergessen hatten. Es war also eine gewoͤhnliche und natuͤrliche Folge dieser Lebhaftigkeit, daß er sich als ein Kind in dem Spiegel mit einer Menge von Umstaͤnden wiedererblickte, die er schon laͤngst vergessen haben konnte, – und was war vollends natuͤrlicher, als daß man seine ehemalige Geliebte auf ei-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0062" n="60"/><lb/>
auch zugleich componirte. Er erwachte aufs neue, stand auf, ließ                   sich Licht bringen, und schrieb den ganzen Traum, nebst dem Gedicht und der                   Composition noch in der nehmlichen Nacht auf, wie es im October des Merkurs 1784.                   steht.</p>
            <p>Jch kann in dem uns mitgetheilten sonderbaren Traum des Herrn von <persName ref="#ref0123"><note type="editorial">Seckendorf, Siegmund Freiherr von</note>Seckendorff</persName>                   eben nicht viel Sonderbares finden, außer, daß er im Schlafe ein <choice><corr>wu&#x0364;rkliches</corr><sic>natu&#x0364;rliches [s.                         Druckfehlerverzeichnis MzE 5.3]</sic></choice> Gedicht, und noch dazu eine                   Composition desselben machte, wovon aber doch auch in der psychologischen                   Geschichte der Tra&#x0364;umereien mehrere Beispiele vorkommen. Was war natu&#x0364;rlicher, als                   daß einem Manne, der gewiß oft u&#x0364;ber die Reihe seiner Schicksale nachgedacht hatte,                   auch sie wohl einmahl noch ganz wie in einem Spiegel zu u&#x0364;berschauen wu&#x0364;nschte, im                   Traume ein anderer mit einem Spiegel erschien, und ihm darin die Folge seines                   Lebens vermo&#x0364;ge seiner lebhaften Einbildungskraft deutlich sehen ließ? Es ist                   bekannt, daß diese Seelenkraft im Schlafe, wenn unsere Sinnen ruhen, und sie                   ungesto&#x0364;hrt und ganz allein wu&#x0364;rken kann, oft mit der gro&#x0364;ßten Lebhaftigkeit uns an                   Begebenheiten erinnert, die wir lange schon vergessen hatten. Es war <hi rendition="#b">also eine gewo&#x0364;hnliche und natu&#x0364;rliche Folge</hi> dieser                   Lebhaftigkeit, daß er sich als ein Kind in dem Spiegel mit einer Menge von                   Umsta&#x0364;nden wiedererblickte, die er schon la&#x0364;ngst vergessen haben konnte, &#x2013; und was                   war vollends natu&#x0364;rlicher, als daß man seine ehemalige Geliebte auf ei-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0062] auch zugleich componirte. Er erwachte aufs neue, stand auf, ließ sich Licht bringen, und schrieb den ganzen Traum, nebst dem Gedicht und der Composition noch in der nehmlichen Nacht auf, wie es im October des Merkurs 1784. steht. Jch kann in dem uns mitgetheilten sonderbaren Traum des Herrn von Seckendorff eben nicht viel Sonderbares finden, außer, daß er im Schlafe ein wuͤrkliches Gedicht, und noch dazu eine Composition desselben machte, wovon aber doch auch in der psychologischen Geschichte der Traͤumereien mehrere Beispiele vorkommen. Was war natuͤrlicher, als daß einem Manne, der gewiß oft uͤber die Reihe seiner Schicksale nachgedacht hatte, auch sie wohl einmahl noch ganz wie in einem Spiegel zu uͤberschauen wuͤnschte, im Traume ein anderer mit einem Spiegel erschien, und ihm darin die Folge seines Lebens vermoͤge seiner lebhaften Einbildungskraft deutlich sehen ließ? Es ist bekannt, daß diese Seelenkraft im Schlafe, wenn unsere Sinnen ruhen, und sie ungestoͤhrt und ganz allein wuͤrken kann, oft mit der groͤßten Lebhaftigkeit uns an Begebenheiten erinnert, die wir lange schon vergessen hatten. Es war also eine gewoͤhnliche und natuͤrliche Folge dieser Lebhaftigkeit, daß er sich als ein Kind in dem Spiegel mit einer Menge von Umstaͤnden wiedererblickte, die er schon laͤngst vergessen haben konnte, – und was war vollends natuͤrlicher, als daß man seine ehemalige Geliebte auf ei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/62
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/62>, abgerufen am 22.11.2024.