Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite


auch nicht wagen, da ihm sein Vater mit sichtbarem Zorn im Gesichte gradezu die Thür gewiesen hatte. Er nahm daher seine Kleider und Victualien, indem seine ganze Seele von innerm Groll gegen seinen Vater glühete, und verließ mit einem verbißnen Trotz das väterliche Haus, ohne von jemand Abschied zu nehmen. Rächen willst du dich! dacht' er, seys auf welche Art es wolle. Sein Blut kochte vor Wuth. Er knirschte mit den Zähnen, stampfte grimmig zur Erde, und rannte wie ein wildes Thier davon. Aber an die Stelle seines innern Grolles trat bald eine unbeschreibliche Wehmuth. Ein heißer Thränenstrom brach ihm aus den Augen. Nun glaubt er auf einmahl der unglücklichste aller Menschen geworden zu seyn, die Bilder seiner genossenen jugendlichen Freuden stellten sich ihm der Reihe nach vor, und er glaubte, daß er nun auf ewig sie werde entbehren müssen. Besonders aber erfüllte ihn der Gedanke mit einem unendlichen Schmerz, daß er künftig sein Brod vor den Thüren anderer Leute suchen sollte. Sonst hatte er in seines Vaters Hause Brod unter die Bettler ausgetheilt; jetzt sollte er selbst als ein Bettler unter den Fenstern anderer Leute singen. Er wollte auf die Landstrasse hinaus; aber seine Knieen bebten; er konnte nicht weiter kommen, so sehr drückte ihn die Last, die auf seiner Seele lag, und verkroch sich daher hinter einem Hollunderstrauch an der Kirche, durch dessen Blätter er mit tausend


auch nicht wagen, da ihm sein Vater mit sichtbarem Zorn im Gesichte gradezu die Thuͤr gewiesen hatte. Er nahm daher seine Kleider und Victualien, indem seine ganze Seele von innerm Groll gegen seinen Vater gluͤhete, und verließ mit einem verbißnen Trotz das vaͤterliche Haus, ohne von jemand Abschied zu nehmen. Raͤchen willst du dich! dacht' er, seys auf welche Art es wolle. Sein Blut kochte vor Wuth. Er knirschte mit den Zaͤhnen, stampfte grimmig zur Erde, und rannte wie ein wildes Thier davon. Aber an die Stelle seines innern Grolles trat bald eine unbeschreibliche Wehmuth. Ein heißer Thraͤnenstrom brach ihm aus den Augen. Nun glaubt er auf einmahl der ungluͤcklichste aller Menschen geworden zu seyn, die Bilder seiner genossenen jugendlichen Freuden stellten sich ihm der Reihe nach vor, und er glaubte, daß er nun auf ewig sie werde entbehren muͤssen. Besonders aber erfuͤllte ihn der Gedanke mit einem unendlichen Schmerz, daß er kuͤnftig sein Brod vor den Thuͤren anderer Leute suchen sollte. Sonst hatte er in seines Vaters Hause Brod unter die Bettler ausgetheilt; jetzt sollte er selbst als ein Bettler unter den Fenstern anderer Leute singen. Er wollte auf die Landstrasse hinaus; aber seine Knieen bebten; er konnte nicht weiter kommen, so sehr druͤckte ihn die Last, die auf seiner Seele lag, und verkroch sich daher hinter einem Hollunderstrauch an der Kirche, durch dessen Blaͤtter er mit tausend

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0056" n="56"/><lb/>
auch nicht wagen, da ihm sein Vater mit                         sichtbarem Zorn im Gesichte gradezu die Thu&#x0364;r gewiesen hatte. Er nahm daher                         seine Kleider und Victualien, indem seine ganze Seele von innerm Groll gegen                         seinen Vater glu&#x0364;hete, und verließ mit einem verbißnen Trotz das va&#x0364;terliche                         Haus, ohne von jemand Abschied zu nehmen. Ra&#x0364;chen willst du dich! dacht' er,                         seys auf welche Art es wolle. Sein Blut kochte vor Wuth. Er knirschte mit                         den Za&#x0364;hnen, stampfte grimmig zur Erde, und rannte wie ein wildes Thier                         davon. Aber an die Stelle seines innern Grolles trat bald eine                         unbeschreibliche Wehmuth. Ein heißer Thra&#x0364;nenstrom brach ihm aus den Augen.                         Nun glaubt er auf einmahl der unglu&#x0364;cklichste aller Menschen geworden zu                         seyn, die Bilder seiner genossenen jugendlichen Freuden stellten sich ihm                         der Reihe nach vor, und er glaubte, daß er nun auf ewig sie werde entbehren                         mu&#x0364;ssen. Besonders aber erfu&#x0364;llte ihn der Gedanke mit einem unendlichen                         Schmerz, daß er ku&#x0364;nftig sein Brod vor den Thu&#x0364;ren anderer Leute suchen                         sollte. Sonst hatte er in seines Vaters Hause Brod unter die Bettler                         ausgetheilt; jetzt sollte er selbst als ein Bettler unter den Fenstern                         anderer Leute singen. Er wollte auf die Landstrasse hinaus; aber seine                         Knieen bebten; er konnte nicht weiter kommen, so sehr dru&#x0364;ckte ihn die Last,                         die auf seiner Seele lag, und verkroch sich daher hinter einem                         Hollunderstrauch an der Kirche, durch dessen Bla&#x0364;tter er mit tausend<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[56/0056] auch nicht wagen, da ihm sein Vater mit sichtbarem Zorn im Gesichte gradezu die Thuͤr gewiesen hatte. Er nahm daher seine Kleider und Victualien, indem seine ganze Seele von innerm Groll gegen seinen Vater gluͤhete, und verließ mit einem verbißnen Trotz das vaͤterliche Haus, ohne von jemand Abschied zu nehmen. Raͤchen willst du dich! dacht' er, seys auf welche Art es wolle. Sein Blut kochte vor Wuth. Er knirschte mit den Zaͤhnen, stampfte grimmig zur Erde, und rannte wie ein wildes Thier davon. Aber an die Stelle seines innern Grolles trat bald eine unbeschreibliche Wehmuth. Ein heißer Thraͤnenstrom brach ihm aus den Augen. Nun glaubt er auf einmahl der ungluͤcklichste aller Menschen geworden zu seyn, die Bilder seiner genossenen jugendlichen Freuden stellten sich ihm der Reihe nach vor, und er glaubte, daß er nun auf ewig sie werde entbehren muͤssen. Besonders aber erfuͤllte ihn der Gedanke mit einem unendlichen Schmerz, daß er kuͤnftig sein Brod vor den Thuͤren anderer Leute suchen sollte. Sonst hatte er in seines Vaters Hause Brod unter die Bettler ausgetheilt; jetzt sollte er selbst als ein Bettler unter den Fenstern anderer Leute singen. Er wollte auf die Landstrasse hinaus; aber seine Knieen bebten; er konnte nicht weiter kommen, so sehr druͤckte ihn die Last, die auf seiner Seele lag, und verkroch sich daher hinter einem Hollunderstrauch an der Kirche, durch dessen Blaͤtter er mit tausend

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/56
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/56>, abgerufen am 13.05.2024.