Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.
Aller meiner Vernunft war ich indessen ganz gewiß vollkommen mächtig; ich dachte ganz richtig; sahe dieses Auffallende nebst den Beurtheilungen von meinen Leuten ein: ich ließ mir aber doch nichts von meiner Verlegenheit, daß ich jetzt nicht ordentlich reden konnte, merken; vielmehr ging ich allmählig, dem Schein nach, mit guter Ueberlegung, freymüthig zurück nach Hause, um mich nicht zum Gelächter zu machen. Unterwegens aber wurde mir diese meine Sprach- und unvermuthete Wortverwirrung doch sehr bedenklich. Es fiel mir ein, wie vielleicht eine Art von Lähmung meine Zunge befallen hätte, und dieser Zufall gar leicht endlich in eine völlige Vergessenheit der Sprache und eine wahre Stummheit übergehen könnte. Doch aber erwog ich ganz reiflich, daß ich ja noch alle Wörter sprechen könnte, die ich wollte; aber nur nicht in gehöriger Ordnung, sondern nur dem Sprachgebrauch zuwider, nicht in gehöriger Reihe, vielmehr ganz verwirrt durcheinander: folglich könne es wohl nicht so sehr an meiner Zunge selbst, als an meinem Gedächtniß fehlen. Um aber auch hiervon die Probe ferner zu
Aller meiner Vernunft war ich indessen ganz gewiß vollkommen maͤchtig; ich dachte ganz richtig; sahe dieses Auffallende nebst den Beurtheilungen von meinen Leuten ein: ich ließ mir aber doch nichts von meiner Verlegenheit, daß ich jetzt nicht ordentlich reden konnte, merken; vielmehr ging ich allmaͤhlig, dem Schein nach, mit guter Ueberlegung, freymuͤthig zuruͤck nach Hause, um mich nicht zum Gelaͤchter zu machen. Unterwegens aber wurde mir diese meine Sprach- und unvermuthete Wortverwirrung doch sehr bedenklich. Es fiel mir ein, wie vielleicht eine Art von Laͤhmung meine Zunge befallen haͤtte, und dieser Zufall gar leicht endlich in eine voͤllige Vergessenheit der Sprache und eine wahre Stummheit uͤbergehen koͤnnte. Doch aber erwog ich ganz reiflich, daß ich ja noch alle Woͤrter sprechen koͤnnte, die ich wollte; aber nur nicht in gehoͤriger Ordnung, sondern nur dem Sprachgebrauch zuwider, nicht in gehoͤriger Reihe, vielmehr ganz verwirrt durcheinander: folglich koͤnne es wohl nicht so sehr an meiner Zunge selbst, als an meinem Gedaͤchtniß fehlen. Um aber auch hiervon die Probe ferner zu <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0024" n="24"/><lb/> daß keiner meiner Leute, die es zwar hoͤrten, daß ich laut sprach, weder was davon verstehen, noch entraͤthseln <choice><corr>konnte</corr><sic>konnten</sic></choice>. Daher glaubten wohl einige, wie ich aus ihrem Aufsehen und Minen schloß: ich muͤßte wieder alle meine Gewohnheit entweder betrunken oder wohl gar verwirret im Kopfe seyn.</p> <p>Aller meiner Vernunft war ich indessen ganz gewiß vollkommen maͤchtig; ich dachte ganz richtig; sahe dieses Auffallende nebst den Beurtheilungen von meinen Leuten ein: ich ließ mir aber doch nichts von meiner Verlegenheit, daß ich jetzt nicht ordentlich reden konnte, merken; vielmehr ging ich allmaͤhlig, dem Schein nach, mit guter Ueberlegung, freymuͤthig zuruͤck nach Hause, um mich nicht zum Gelaͤchter zu machen.</p> <p>Unterwegens aber wurde mir diese meine Sprach- und unvermuthete Wortverwirrung doch sehr bedenklich. Es fiel mir ein, wie vielleicht eine Art von Laͤhmung meine Zunge befallen haͤtte, und dieser Zufall gar leicht endlich in eine voͤllige Vergessenheit der Sprache und eine wahre Stummheit uͤbergehen koͤnnte. Doch aber erwog ich ganz reiflich, daß ich ja noch alle Woͤrter sprechen koͤnnte, die ich wollte; aber nur nicht in gehoͤriger Ordnung, sondern nur dem Sprachgebrauch zuwider, nicht in gehoͤriger Reihe, vielmehr ganz verwirrt durcheinander: folglich koͤnne es wohl nicht so sehr an meiner Zunge selbst, als an meinem Gedaͤchtniß fehlen. Um aber auch hiervon die Probe ferner zu<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [24/0024]
daß keiner meiner Leute, die es zwar hoͤrten, daß ich laut sprach, weder was davon verstehen, noch entraͤthseln konnte. Daher glaubten wohl einige, wie ich aus ihrem Aufsehen und Minen schloß: ich muͤßte wieder alle meine Gewohnheit entweder betrunken oder wohl gar verwirret im Kopfe seyn.
Aller meiner Vernunft war ich indessen ganz gewiß vollkommen maͤchtig; ich dachte ganz richtig; sahe dieses Auffallende nebst den Beurtheilungen von meinen Leuten ein: ich ließ mir aber doch nichts von meiner Verlegenheit, daß ich jetzt nicht ordentlich reden konnte, merken; vielmehr ging ich allmaͤhlig, dem Schein nach, mit guter Ueberlegung, freymuͤthig zuruͤck nach Hause, um mich nicht zum Gelaͤchter zu machen.
Unterwegens aber wurde mir diese meine Sprach- und unvermuthete Wortverwirrung doch sehr bedenklich. Es fiel mir ein, wie vielleicht eine Art von Laͤhmung meine Zunge befallen haͤtte, und dieser Zufall gar leicht endlich in eine voͤllige Vergessenheit der Sprache und eine wahre Stummheit uͤbergehen koͤnnte. Doch aber erwog ich ganz reiflich, daß ich ja noch alle Woͤrter sprechen koͤnnte, die ich wollte; aber nur nicht in gehoͤriger Ordnung, sondern nur dem Sprachgebrauch zuwider, nicht in gehoͤriger Reihe, vielmehr ganz verwirrt durcheinander: folglich koͤnne es wohl nicht so sehr an meiner Zunge selbst, als an meinem Gedaͤchtniß fehlen. Um aber auch hiervon die Probe ferner zu
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/24>, abgerufen am 16.02.2025. |