Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.Wenn dasjenige, was jetzt unser Jch ausmacht, schon einmal in andern Verhältnissen da war, so müßten wohl nur die halberloschnen Kindheitsideen das feine unmerkliche Band seyn, wodurch unser gegenwärtiger Zustand an den vergangnen geknüpft würde; sie sind gleichsam ein zarter Faden, wodurch wir in der Kette der Wesen befestigt sind, um so viel wie möglich isolirte, für sich bestehende Wesen zu seyn. Unsre Kindheit wäre dann der Lethe, aus welchem wir getrunken hätten, um uns nicht in dem vorhergehenden und nachfolgenden Ganzen zu verschwimmen, sondern eine individuelle, gehörig umgränzte Persönlichkeit zu haben. Wir sind gleichsam in ein Labyrinth versetzt, woraus wir den Faden nicht wieder zurückfinden können, und ihn auch vielleicht nicht wieder zurückfinden sollen: wir knüpfen daher den Faden der Geschichte an, wo der Faden unsrer eignen Rückerinnerung reißt, und leben, wie unsre eigne Existenz uns schwindet, in der Existenz der Vorwelt zurück. Noch gab es keinen Theseus, der aus diesem verwickelten Lebenslabyrinthe den Ausweg durch Rückerinnerung gefunden hätte, und wenn es einen gäbe, so würde man sehr strenge Beweise fordern, welche wir aufzustellen, schwerlich im Stande seyn würden: die Rückerinnerung würde also ihm Wenn dasjenige, was jetzt unser Jch ausmacht, schon einmal in andern Verhaͤltnissen da war, so muͤßten wohl nur die halberloschnen Kindheitsideen das feine unmerkliche Band seyn, wodurch unser gegenwaͤrtiger Zustand an den vergangnen geknuͤpft wuͤrde; sie sind gleichsam ein zarter Faden, wodurch wir in der Kette der Wesen befestigt sind, um so viel wie moͤglich isolirte, fuͤr sich bestehende Wesen zu seyn. Unsre Kindheit waͤre dann der Lethe, aus welchem wir getrunken haͤtten, um uns nicht in dem vorhergehenden und nachfolgenden Ganzen zu verschwimmen, sondern eine individuelle, gehoͤrig umgraͤnzte Persoͤnlichkeit zu haben. Wir sind gleichsam in ein Labyrinth versetzt, woraus wir den Faden nicht wieder zuruͤckfinden koͤnnen, und ihn auch vielleicht nicht wieder zuruͤckfinden sollen: wir knuͤpfen daher den Faden der Geschichte an, wo der Faden unsrer eignen Ruͤckerinnerung reißt, und leben, wie unsre eigne Existenz uns schwindet, in der Existenz der Vorwelt zuruͤck. Noch gab es keinen Theseus, der aus diesem verwickelten Lebenslabyrinthe den Ausweg durch Ruͤckerinnerung gefunden haͤtte, und wenn es einen gaͤbe, so wuͤrde man sehr strenge Beweise fordern, welche wir aufzustellen, schwerlich im Stande seyn wuͤrden: die Ruͤckerinnerung wuͤrde also ihm <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0002" n="2"/><lb/> <p>Wenn dasjenige, was jetzt unser <hi rendition="#b">Jch</hi> ausmacht, schon einmal in andern Verhaͤltnissen da war, so muͤßten wohl nur die halberloschnen Kindheitsideen das feine unmerkliche Band seyn, wodurch unser gegenwaͤrtiger Zustand an den vergangnen geknuͤpft wuͤrde; <hi rendition="#b">sie sind gleichsam ein zarter Faden, wodurch wir in der Kette der Wesen befestigt sind, um so viel wie moͤglich isolirte, fuͤr sich bestehende Wesen zu seyn.</hi></p> <p>Unsre Kindheit waͤre dann der <hi rendition="#b">Lethe,</hi> aus welchem wir getrunken haͤtten, um uns nicht in dem vorhergehenden und nachfolgenden Ganzen zu verschwimmen, sondern eine individuelle, gehoͤrig umgraͤnzte Persoͤnlichkeit zu haben.</p> <p>Wir sind gleichsam in ein <hi rendition="#b">Labyrinth</hi> versetzt, woraus wir den Faden nicht wieder zuruͤckfinden koͤnnen, und ihn auch vielleicht nicht wieder zuruͤckfinden sollen: wir knuͤpfen daher den Faden <hi rendition="#b">der Geschichte</hi> an, wo der Faden <choice><corr>unsrer</corr><sic>unsre</sic></choice> eignen Ruͤckerinnerung reißt, und leben, wie unsre eigne Existenz uns schwindet, in der Existenz der Vorwelt zuruͤck.</p> <p>Noch gab es keinen Theseus, der aus diesem verwickelten Lebenslabyrinthe den Ausweg durch Ruͤckerinnerung gefunden haͤtte, und wenn es einen gaͤbe, so wuͤrde man sehr <hi rendition="#b">strenge Beweise</hi> fordern, welche wir aufzustellen, schwerlich im Stande seyn wuͤrden: die Ruͤckerinnerung wuͤrde also ihm<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [2/0002]
Wenn dasjenige, was jetzt unser Jch ausmacht, schon einmal in andern Verhaͤltnissen da war, so muͤßten wohl nur die halberloschnen Kindheitsideen das feine unmerkliche Band seyn, wodurch unser gegenwaͤrtiger Zustand an den vergangnen geknuͤpft wuͤrde; sie sind gleichsam ein zarter Faden, wodurch wir in der Kette der Wesen befestigt sind, um so viel wie moͤglich isolirte, fuͤr sich bestehende Wesen zu seyn.
Unsre Kindheit waͤre dann der Lethe, aus welchem wir getrunken haͤtten, um uns nicht in dem vorhergehenden und nachfolgenden Ganzen zu verschwimmen, sondern eine individuelle, gehoͤrig umgraͤnzte Persoͤnlichkeit zu haben.
Wir sind gleichsam in ein Labyrinth versetzt, woraus wir den Faden nicht wieder zuruͤckfinden koͤnnen, und ihn auch vielleicht nicht wieder zuruͤckfinden sollen: wir knuͤpfen daher den Faden der Geschichte an, wo der Faden unsrer eignen Ruͤckerinnerung reißt, und leben, wie unsre eigne Existenz uns schwindet, in der Existenz der Vorwelt zuruͤck.
Noch gab es keinen Theseus, der aus diesem verwickelten Lebenslabyrinthe den Ausweg durch Ruͤckerinnerung gefunden haͤtte, und wenn es einen gaͤbe, so wuͤrde man sehr strenge Beweise fordern, welche wir aufzustellen, schwerlich im Stande seyn wuͤrden: die Ruͤckerinnerung wuͤrde also ihm
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/2>, abgerufen am 16.07.2024. |